Hohe Ansprüche – Ressource oder Stolperstein?

Grüezi – Guten Tag!

Haben Sie hohe Ansprüche an sich und das Leben? Oder folgen Sie eher dem Motto „Lieber den Spatz in der Hand…“? In diesem Newsletter geht es um die Frage, ob hohe Ansprüche wertvolle Ressource sind oder Stolperstein, unrealistische Träumerei, unanständige Vermessenheit. Was ist Ihre spontane Antwort?

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

„Wissen Sie, ich habe eben hohe Ansprüche…“

In einer Seminarpause unterhalte ich mich mit einer Teilnehmerin. Fast entschuldigend sagt sie „Wissen Sie, ich habe eben hohe Ansprüche.“ Und fragt: „Ist das falsch?“

In unterschiedlichen Varianten begegne ich dem Thema immer wieder:

  • Ich berate einen Herrn bei der Stellensuche. Auf meine Frage, wie denn eine Stelle aussehen würde, wofür sich der Energieaufwand der Stellensuche lohnt, reagiert er irritiert: „Ich habe doch nichts zu wünschen. Ich muss doch froh sein, überhaupt eine Stelle zu finden.“ Und doppelt nach: „Heutzutage darf man keine Ansprüche haben.“
  • Eine Beratungskundin erwägt, sich von ihrem Partner zu trennen. Lange hat sie Wege gesucht, frischen Schwung in die Beziehung zu bringen. Vergeblich. Sie fragt: „Ist es denn falsch, hohe Ansprüche an eine Partnerschaft zu haben? Ist eine wirklich gute Partnerschaft eine Illusion? Bin ich unrealistisch? Müsste ich mich zufrieden geben mit dem Status Quo nach dem Motto ‚Man kann nicht alles haben. In jeder Partnerschaft gibt es etwas, was nicht gut ist.‘?“
  • In einem Seminar haben wir es vom Mut zum eigenen Weg. Eine Teilnehmerin erzählt traurig, sie habe diesen Mut verloren. Es sei ihr früher gesagt worden, sie solle sich den Wunsch, Ärztin zu werden, aus dem Kopf schlagen, sie müsse nicht meinen, etwas Besseres zu sein. Sie hätte dann eine Lehre als Pflegefachfrau absolviert…
  • Ein Beratungskunde ist erschöpft und frustriert. Er hatte Karriere machen wollen. Mit Ehrgeiz und Fleiß hatte er sich in seiner Firma dafür eingesetzt, Stufe um Stufe nach oben zu kommen. Freude machte es ihm nicht. Jetzt ist seine Stelle wegrationalisiert worden. Leise sagt er: „Vielleicht hatte ich zu hohe Ansprüche.“

Unterschiedliche Situationen. Alle haben mit dem Thema „Ansprüche“ zu tun.

Darf man hohe Ansprüche haben – oder ist das vermessen? Unrealistisch?

Oder muss man hohe Ansprüche haben – Wegweiser und Ressource, sich zu entwickeln?

Was ist Ihre persönliche Antwort?

 

Hohe Ansprüche – Ressource oder Stolperstein?

Unter hohen Ansprüchen verstehe ich

  • den Anspruch, sich zu entwickeln und Situationen zu erreichen, in denen man „im Element“ ist. Für den einen ist es eine Karriere, für jemand anders gute Beziehungen, für den dritten Lebensqualität, was auch immer das individuell konkret beinhalten mag;
  • den Anspruch, sich nicht mit unbefriedigenden Situationen abzufinden und/oder falsche Kompromisse einzugehen.

Damit verbunden ist eine Lebensauffassung, wonach wir unsere Talente, Interessen, Träume erkennen, nutzen und zum Ausdruck bringen dürfen, ja sollen. Im Sinne des Gedichts des persischsprachigen Mystikers und Dichters Rumi (1207-1273):

„Du bist geboren mit Potential.
Du bist geboren mit Güte und Vertrauen.
Du bist geboren mit Idealen und Träumen.
Du bist geboren mit Größe.
Du bist geboren mit Flügeln.
Du bist nicht gemeint, zu kriechen; also unterlass dies.
Du hast Flügel. Lern, sie zu benützen und flieg.“

So gesehen, sind hohe Ansprüche wichtige Ressource und Kompass – gerade bei Weichenstellungen oder in schwierigen Lebenssituationen. Sich nicht zufrieden zu geben mit Halbheiten, unbefriedigende Situationen nicht schön zu reden mit Sätzen wie „Das Perfekte gibt es nicht“, sondern sich zu fragen „Was kann ich hier tun, um in bessere Situationen zu kommen?“ ist dann nicht Luxus, sondern Aufgabe.

Wie in Rumis Gedicht zum Ausdruck kommt: Wir haben nicht Flügel bekommen, um zu kriechen. Wie viele Menschen sind unglücklich, unzufrieden – weil sie sich nicht zugestehen, Ansprüche zu entwickeln, die ihnen Kompass sein könnten, in erfreuliche Lebenssituationen zu kommen. Sie finden sich ab mit unbefriedigenden Situationen – und rechtfertigen dies als „Realismus“.

Viele lassen sich von sozial akzeptierten Sätzen wie „Greif nicht nach den Sternen“, „Man kann nicht alles haben“, „Hohe Ansprüche sind vermessen“ verunsichern und davon abhalten, sich für positive Resultate und Lebensqualität einzusetzen.

Auch mir wurde schon früh vermittelt „Du hast zu hohe Ansprüche“. Ohne meine Ansprüche wäre ich nicht dort, wo ich bin. Ich hätte nicht vierzig Jahre mit einer erblich bedingten Hautkrankheit durchgestanden und diese schließlich hinter mir lassen können, hätte nicht als Werkstudentin mein Studium abgeschlossen, zwei Arbeitsintegrationsfirmen aufgebaut, mit Begeisterung meine Dissertation geschrieben, drei Bücher publiziert, eine Beziehung beendet, die mir schadete und wäre damit auch nicht meinem Mann begegnet. Ich habe mich geweigert, mich dem „Du hast zu hohe Ansprüche“ unterzuordnen. Meine hohen Ansprüche waren für mich sozusagen überlebenswichtig. Ohne sie würde ich mich wohl noch immer mit der Krankheit herumschlagen, mir von Experten erklären lassen, woran das liegt und was zu tun sei. Ich wäre wahrscheinlich unglücklich und unzufrieden. Vielleicht würde ich jene innere Stimme, die zuruft „Flieg!“, schon gar nicht mehr hören. Und die Energie, mich zu engagieren, wäre wohl abhandengekommen.

Lassen Sie sich nicht einreden, hohe Ansprüche seien vermessen. Oder Luxus. Viele, die dies vermitteln, versuchen, andere klein zu halten nach dem Motto „Dir soll es nicht besser gehen als mir“.

Vielleicht fragen Sie jetzt: Muss denn jeder hohe Ansprüche haben? Kann man nicht einfach zufrieden sein mit dem „Spatzen in der Hand“? Ja, sicher. Doch viele Menschen sind nicht zufrieden mit dem „Spatzen“, sondern unzufrieden und neidisch auf die „Taube auf dem Dach“. Das ist ein Unterschied. Hohe Ansprüche zu haben, heißt nicht, dass jeder eine bahnbrechende Erfindung machen, den Nobelpreis gewinnen oder eine Firma führen muss. Es heißt, sich dafür einzusetzen, dass man in eine Lebenssituation kommt, in der man sagen kann: „Ich stehe (fast) jeden Tag gerne auf.“ Und ja, hohe Ansprüche, so wie ich sie verstehe, sind gekoppelt an Engagement. Ich will Sie nicht anregen, zu tun, was viele machen: „Ich hab Recht auf…“ Sie wollen viel erreichen – ohne etwas dafür zu tun. Die „Taube auf dem Dach“ gibt es nicht umsonst.

Vielleicht fragen Sie auch: Gibt es denn nicht „falsche“ hohe Ansprüche? Kann man nicht an hohen Ansprüchen zerbrechen? Können hohe Ansprüche nicht auch Utopie sein, überfordern und unglücklich machen? Der Beratungskunde, von dem oben die Rede war, der Karriere machen wollte und die Kündigung erhielt, hatte ja auch hohe Ansprüche…

Hohe Ansprüche können problematisch sein bzw. zum Stolperstein werden, wenn sie

  • nicht wirklich dem eigenen Wesen entsprechen, wenn sie nicht gekoppelt sind an eigene Talente, echte Interessen und Motive, die im Dienst der eigenen Entwicklung stehen. Die Ansprüche vieler Menschen sind „außen gesteuert“: Sie beziehen sich darauf, was sie bei anderen bewundern oder wovon sie sich Erfolg, Bestätigung, Status, Geld, Zugehörigkeit erhoffen. Hohe Ansprüche, so wie ich sie verstehe, kommen von „innen“ und können daran erkannt werden, dass der Gedanke daran Freude vermittelt, mit einem Kribbeln im Bauch verbunden ist. Sie können daran erkannt werden, dass man sich gerne und sowohl motiviert als auch diszipliniert dafür einsetzt, bereit ist, Konsequenzen zu tragen und auch Durststrecken und Rückfälle nicht scheut. Sie sind gekoppelt an Zugang zu sich selbst, an eine wohlwollende, realistische, immer auch kritische Wahrnehmung eigener Stärken und Schwächen.
  • fixiert sind auf das Erreichen ganz bestimmter Ziele. Ich habe nie gesagt „Ich möchte mal in zwei Ländern leben und Menschen im Umgang mit Veränderung begleiten“. Ich habe mir lediglich gesagt „Ich möchte tun, was mir Freude macht, ich brauche Freiheit und Weite, ich wünsche mir eine Umgebung, in der ich meine Talente einbringen kann.“ Und: „Ich lasse mich nicht abhalten, in diese Richtung Schritte umzusetzen, und gehe keine falschen Kompromisse ein.“

In diesem Sinn möchte ich Sie anregen und ermutigen, Ihre Ansprüche an sich selbst und an das Leben zu erkunden.

Und ich möchte Sie anregen und ermutigen, sich an Ansprüchen zu orientieren, die positive Entwicklung ermöglichen. Ja, es braucht Mut, hohe Ansprüche zu entwickeln und Denken und Handeln daran auszurichten: Den Mut zum eigenen Weg. Den Mut, sich für die eigene Entwicklung und Entfaltung einzusetzen. Den Mut, keine falschen Kompromisse einzugehen. Den Mut, sich zu distanzieren von der weit verbreiteten Auffassung „Das Leben ist kein Wunschkonzert“. Den Mut, auszuhalten, wenn man dafür allenfalls als Idealist oder Egoist abgestempelt wird oder neidische, moralistische, abwertende Reaktionen auslöst.

Die Belohnung: Innere Lebendigkeit und Lebensqualität. Entscheidungen, hinter denen Sie stehen. Resultate, die Ihnen Mut machen. Und: Ein Mensch mehr, der echt zufrieden ist – egal, ob „mit dem Spatzen in der Hand“ oder „der Taube auf dem Dach“.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

 

 


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