Grüezi – Guten Tag!
Aufmerksamkeitsspanne bedeutet die Dauer, während der wir uns konzentriert mit etwas beschäftigen. Sich darin zu üben, die Aufmerksamkeitsspanne bewusst und flexibel zu regulieren, ermöglicht, dass wir unser Leben besser gestalten können und gesund bleiben. Mehr dazu in diesem Newsletter.
Viel Anregendes wünscht Ihnen
Inhalte
- Von Interviewantworten und buddhistischen Mönchen
- Was können wir aus diesen Beispielen für uns ableiten?
- Kurze vs. lange Aufmerksamkeitsspanne: Was geschieht im Gehirn?
- Aufmerksamkeitsspanne selbst regulieren: Anregungen
- Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
Von Interviewantworten und buddhistischen Mönchen
Kurz vor den Festtagen wurde ich angefragt für ein Interview. Schweizer Radio SRF 1, Morgensendung 31. Dezember zum Thema „Neuanfänge“. Naheliegend um den Jahreswechsel. Bei der Vorbesprechung macht mich die Journalistin darauf aufmerksam, dass meine Antworten nicht länger als 30 Sekunden sein dürfen. Sie erläutert fast entschuldigend: Studien hätten ergeben, dass ihre Hörerschaft bei längeren Antworten abschalten würde. Das heißt mit anderen Worten: Deren Aufmerksamkeitsspanne – die Dauer, während der sie konzentriert und interessiert zuhören – ist auf 30 Sekunden begrenzt.
Stimmt das eigentlich?
Einerseits scheint tatsächlich die Fähigkeit vieler Menschen abzunehmen, über längere Zeit konzentriert in ein Thema oder auch eine Tätigkeit einzutauchen. Andererseits erfahre ich immer wieder das Gegenteil. So etwa in meinen Seminaren für Parkinsonpatienten. Man sagt, diese könnten krankheitsbedingt max. 20 Minuten konzentriert einen Inhalt aufnehmen. In den Seminaren kommt es vor, dass Teilnehmende nach 1 ½ h wünschen, auf die Pause zu verzichten und weiterzumachen.
Szenenwechsel. Ich bin soeben zurückgekehrt von einem längeren Aufenthalt in Sri Lanka. Mein Mann und ich haben das Land seit vielen Jahren ins Herz geschlossen. Schöne Freundschaften sind entstanden. Eine davon ergab sich über „Zufall“ mit einem buddhistischen Mönch, einer hochinteressanten Person. Jetzt erzählte er von einem Kongress mit Mönchen aus Thailand, Myanmar und Sri Lanka. Sie hätten austauschen und voneinander lernen wollen, in welchem Land die Ausbildung der jungen Mönche am effektivsten ist. Auf unsere Frage nach dem Resultat antwortet er: Die Ausbildung in Myanmar sei am effektivsten. Auf unsere Frage, ob das erklärbar sei, antwortet er: In Myanmar gibt es am wenigsten Hilfsmittel zum Lernen, etwa Informatik und auch Bücher. Dies zwingt die Mönche, ihr Gedächtnis als Hilfsmittel zu nutzen. Sie lernen, so sehr in Gehörtes oder Gelesenes einzutauchen, dass sie es komplett verinnerlichen und beliebig abrufen können. Um dies zusätzlich zu trainieren, gehöre es zur Ausbildung, in einem dunklen Raum Fragen zu beantworten oder unvorbereitet über ein Thema zu referieren. Dunkel sei der Raum, um unabgelenkt aufs Thema zu fokussieren. Mit solchen Strategien stärken sie die Fähigkeit zu einer sehr langen Aufmerksamkeitsspanne, hoher Konzentration. Sie entwickeln ein brillantes Gedächtnis und zugleich die Fähigkeit, Gelerntes abzurufen, wiederzugeben, Bezüge zu aktuellen Situationen herzustellen, auf Fragen einzugehen usw. Ziel ist nicht „auswendig lernen“, sondern, das Gehirn zu trainieren, konzentriert und über längere Dauer Inhalte aufzunehmen, zu verarbeiten, zu speichern, abzurufen, eigenständig zu kombinieren und zu eigenen Standpunkten zu kommen. Das setzt sie in die Lage, sehr effektiv zu sein – intellektuell und auch praktisch. Weil sie Inhalte verinnerlicht haben und verstehen, können sie sie ins tägliche Leben übertragen. Buddhismus ist sehr praxisorientiert.
Was haben die Beschränkung von Antworten in einem Interview auf 30 Sekunden zu tun mit jungen buddhistischen Mönchen in Myanmar? Und warum ist das für uns interessant?
Ich will hier nicht in die leicht einmal moralisch werdende Diskussion einsteigen über die Präsenz von (social) Media, über die sich viele wie ferngesteuert konstant rasch wechselnden Inputs aussetzen. Und es liegt mir fern und ist auch weder realistisch noch erstrebenswert, dass wir buddhistische Mönche kopieren.
Was können wir aus diesen Beispielen für uns ableiten?
Ein paar Beobachtungen.
- Vorweg: Wenn Radiohörende nach 30‘ abschalten, kann es auch einfach sein, dass sie der Inhalt nicht interessiert. Vielleicht wollen sie auch einfach bei einer Tasse Kaffee den „Kopf verlüften“, Musik hören – kurze Impulse sind willkommen, mehr ist nicht erwünscht.
- Was aber die Journalistin anspricht, bezieht sich auf das Phänomen, dass sich gegenwärtig immer mehr Menschen nicht mehr über längere Zeit auf etwas konzentrieren bzw. einlassen können. Sie setzen sich konstant wechselnden Inputs aus – sie scheinen darüber keine Regie zu haben. Wie bei einer Sucht benötigen sie dauernd wechselnde Inputs. Dabei bleiben Verarbeitung und Integration auf der Strecke. Sie können nicht abrufen, was sie konstant aufnehmen. Das zeigt sich etwa bei Jugendlichen, denen ein einfacher kurzer Text vorgelegt wird und die kurze Zeit danach nicht mehr sagen können, wovon der Text handelt.
- Demgegenüber erinnert das Beispiel der Parkinsonpatienten daran, dass wir in der Lage sind, unsere Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern, sogar dann, wenn dies aus gesundheitlichen Gründen anspruchsvoll ist. Wichtig dürften sein: Interesse, Neugierde und Wichtigkeit, die ein Thema für einen hat. Sowie die Entscheidung, sich die Zeit zu nehmen, um in ein Thema einzutauchen.
- Die jungen Mönche in Myanmar machen das noch deutlicher: Wir können trainieren, uns in etwas zu vertiefen. Wir können trainieren, unsere Aufmerksamkeitsspanne auszudehnen. Das heißt nichts anderes, als dass wir unser Gehirn trainieren. Zugleich erinnert das Beispiel der Mönche daran: Das Eintauchen in ein Thema oder eine Tätigkeit ist die Basis, um Aufgenommenes zu integrieren, abzurufen, Verbindungen herzustellen, Überblick zu gewinnen und so zum Eigenen zu machen.
Fazit: Wir können lernen, Regie über uns selbst zu übernehmen. Wir können entscheiden, zu üben, unseren Aufmerksamkeitsfokus und unsere Aufmerksamkeitsspanne selbst zu regulieren.
Nützlich ist es dabei, zu verstehen, was eine Beschränkung der Aufmerksamkeitsspanne bzw. die Fähigkeit zu einer langen Aufmerksamkeitsspanne neurobiologisch bedeuten: Was geschieht in unserem Gehirn, wenn wir von einem Thema zum nächsten springen ohne Regie darüber zu haben? Und was geschieht in unserem Gehirn, wenn wir in ein Thema oder eine Tätigkeit eintauchen, vollkommen präsent, auch wenn es länger dauert als 30‘? Dies besser zu verstehen, dürfte zusätzlich ermutigen, sich darin zu üben, die Aufmerksamkeitsspanne selbst zu regulieren – in manchen Situationen ist es nützlich, sich vielen Inputs auszusetzen, in manchen ist es nützlich, sich in Inhalte oder Tätigkeiten zu vertiefen. Die Fähigkeit, dies selbst (mehr) zu steuern, ermöglicht es uns, durch unsere Realität zu navigieren – ohne uns darin zu verlieren.
Kurze vs. lange Aufmerksamkeitsspanne: Was geschieht im Gehirn?
Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne bedeutet: Wir bleiben nicht lange bei einem Thema. Kurzfristig kann das durchaus sinnvoll und effektiv sein: Es kann bedeuten, dass wir uns aus einer Menge Inputs Überblick verschaffen, klären, was essenziell ist und uns dann dort vertiefen. Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne kann aber auch beinhalten, dass wir nicht mehr anders können als von einem Thema zum nächsten zu springen. Wir brauchen dauernd neue Inputs bzw. verlieren rasch Interesse, Konzentration und Aufnahmefähigkeit. Neurobiologisch bedeutet das, dass das Gehirn nonstop auf Hochtouren beschäftigt ist, all die unterschiedlichen, schnell wechselnden Inputs möglichst effizient zu verarbeiten. Es kommt zu erhöhter Gehirnaktivität, das Gehirn ist in erregtem Zustand. Auf Dauer führt das zu Inkohärenz, d.h. Informationsaustausch und -verarbeitung zwischen verschiedenen Gehirnbereichen erfolgen nicht mehr gut. Wenn die Inputs nicht verarbeitet werden, können sie auch nicht gespeichert und damit nicht gut abgerufen werden. Wenn das Gehirn nicht mehr gut funktioniert, funktionieren wir nicht mehr gut. Die neurochemischen Prozesse, die mit dieser erhöhten Aktivität, ja Aktivismus im Gehirn einhergehen, versetzen eine Person physiologisch in den „Stress-Modus“ – wir jagen unser Gehirn in dauernden „Alert“-Zustand. Unsere Aufmerksamkeit wechselt unruhig auf dauernd wechselnde Inputs. Diese können so nicht verarbeitet und gespeichert werden. Es ist, als würden wir uns dauernd überessen, wodurch wir immer weniger gut verdauen. Die in diesem Modus ausgeschütteten Stresshormone machen auf Dauer buchstäblich süchtig „nach mehr desselben“. Das ist mental, emotional und auf Dauer auch körperlich erschöpfend – Basis für Ungleichgewicht und Krankheit.
Eine lange Aufmerksamkeitsspanne bedeutet: Wir können lange konzentriert bei einem Thema bleiben. Wir können uns so auf einen Inhalt, eine Tätigkeit oder auch eine Person einlassen, dass Umstände in den Hintergrund rücken; wir vergessen etwa die Zeit, spüren nicht, dass wir hungrig sind, hören die Geräusche der Umgebung nicht mehr, sogar ein körperlicher Schmerz kann in den Hintergrund rücken. Was passiert im Gehirn? Konzentration auf einen spezifischen Inhalt bedeutet, dass der Frontallappen im Neocortex aktiviert wird, jener Gehirnbereich, der für bewusste Prozesse zuständig ist. Je konzentrierter und präsenter wir in etwas eintauchen – ein Buch, eine inspirierende Begegnung, die Vorbereitung einer Mahlzeit, das geduldige Suchen einer Lösung für ein Problem – desto mehr werden die anderen Gehirnbereiche sozusagen runtergefahren, d.h. wir sind so involviert, dass wir Zeit und Umgebung „vergessen“. Wir fühlen uns im „Flow“. In diesem Zustand entsteht Kohärenz in der Gehirnaktivität, d.h. es gibt wenig „Störfaktoren“, Signale sind sehr klar, was wiederum ermöglicht, dass die Inhalte gut abgespeichert werden können. In diesem Zustand sind wir physiologisch im (Re)Creation-Modus. Das ist der Modus, in dem wir konzentriert, zugleich entspannt sind. Es ist der Modus, in dem wir Zugang haben zu unserer Intuition und Kreativität. Wir können Neues aufnehmen, dieses mit Bekanntem verknüpfen, kommen auf gute Ideen und zu eigenen Standpunkten.
Aufmerksamkeitsspanne selbst regulieren: Anregungen
- Sich selbst beobachten. Kann ich selbst steuern, welchen Inputs ich wieviel und wie lange Aufmerksamkeit schenke? Kann ich mich vielen Inputs aussetzen und jederzeit damit stoppen? Kann ich mich in etwas vertiefen – vollkommen präsent? Kann ich abrufen, z.B. einer anderen Person erzählen, was ich aufgenommen habe?
- Zu sich kommen, Ruhe kreieren – auch im Gehirn. Die Mönche erinnern an einen weiteren wichtigen Punkt: Sie sind trainiert, ihre Aufmerksamkeit von außen nach innen zu lenken. Sie sind trainiert, innere Prozesse wach wahrzunehmen und zugleich in einen Modus der Ruhe zu kommen. Dies wird gefördert durch Meditation. Meditation unterstützt, die Aufmerksamkeit von allem, dem wir ausgesetzt sind, nach innen zu lenken, hellwach zu sein und zugleich entspannt; damit kann sich die Gehirnaktivität beruhigen und unser vegetatives Nervensystem in den (Re)Creation-Modus wechseln – den Modus, in dem wir u.a. uns und damit auch unseren Aufmerksamkeitsfokus und unsere Aufmerksamkeitsspanne flexibel steuern können. Sie brauchen nicht ein buddhistischer Mönch zu sein, um immer wieder innezuhalten, sich selbst zu beobachten, zur Ruhe zu kommen. Das ist zugleich die Basis, sich selbst zu steuern.
- Aufmerksamkeitsspanne „ausdehnen“. Wir können bewusst und zugleich spielerisch üben, uns Zeit zu nehmen, um uns in etwas zu vertiefen, völlig präsent – damit trainieren wir unser Gehirn. Das kann die Lektüre eines Buches sein, ein gutes Gespräch, das Ausprobieren eines neuen Kochrezepts, die Recherche zu einem beliebigen Thema, das uns interessiert – ohne uns ablenken zu lassen.
- „Empfangspause“. Indem Sie bewusst immer wieder „Empfangspausen“ in Ihren Alltag integrieren, ermöglichen Sie Ihrem Gehirn, in einen ruhigeren Modus zu gehen. Das ermöglicht Verarbeitung, Integration und unterstützt Gesundheit. Je besser Sie verstehen, warum das nicht nur guttut, sondern hilft, besser, kreativer, belastbarer und gesünder zu leben, desto wirksamer.
- Einer anderen Person erzählen, was man in der Auseinandersetzung mit einem Inhalt oder auch einer Person gelernt hat. Sie müssen keine Referate in einem dunklen Raum halten. Doch indem Sie wiedergeben, was Sie aufnehmen, verankern Sie dies im Gehirn.
Ich wünsche Ihnen Freude, sich in der Kunst zu üben, offen, neugierig und interessiert einzutauchen in die Vielfalt von Inputs, die uns umgeben und zugleich Regie zu behalten. Damit behalten Sie die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie lange Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist und flexibel zu wechseln zwischen kurzen Inputs und zeitvergessenem Eintauchen in ein Thema, eine Tätigkeit oder Begegnung.
Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
- Die Aufmerksamkeitsspanne ist abhängig von unserer Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu lenken. Mehr dazu in meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“.
- Gegenwärtig kann es schnell passieren, dass wir so viel „am Hut“ haben, dass wir Übersicht verlieren und auch Regie über uns selbst. Zum Thema „Selbstregulierung“ mehr in meinem Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“, s. Kapitel 2.2 Psychologische Perspektive zum Ansatz Julius Kuhls.
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