Bedürfnis nach Veränderung? Erst genau hinschauen!

Grüezi – Guten Tag!

Viele Menschen haben den Wunsch, aus Situationen aufzubrechen. Sei es, weil sie sich am Arbeitsplatz oder in ihrer sozialen Umgebung als „Eisbär in der Wüste“ fühlen, wie ich dies nenne. Oder sei es, dass Neues, ganz Anderes so verlockend scheint. Das Beispiel einer Beratungskundin erinnert daran, erst genau hinzuschauen, bevor man „all in“ geht. Mehr dazu in diesem Newsletter.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

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Der Wunsch, aufzubrechen

Das kommt häufig vor: Menschen, die in einer Situation unzufrieden sind, aufbrechen wollen – nur: Wohin? Bei vielen geht es um den Arbeitsplatz: Sie fühlen Überdruss, Stress, leiden an zu vielen oder schlecht geführten Veränderungen, haben Mühe mit der Kultur in der Organisation und der Stimmung im Team, fühlen sich in ihrer Entwicklung gebremst. Bei anderen spielt Ähnliches im sozialen Umfeld: Es gibt Spannungen in Beziehungen, sie fühlen sich nicht verstanden, oder – auffallend zunehmend – sie fühlen sich aufgrund der Veränderungen im Kontext von COVID-19 fremd, ausgegrenzt. In solchen Situationen wächst schnell einmal der Wunsch, vielleicht sogar ein Druck, etwa den Job zu kündigen, an einen anderen Ort zu ziehen, Beziehungen abzubrechen – um in einer neuen Situation glücklicher, mehr im Element sein zu können. Das ist naheliegend und verständlich. Es gibt auch durchaus Situationen, in denen es der beste Schritt ist, aufzubrechen.

Doch immer ist es wichtig, erst genau hinzuschauen. Wenn Sie meinen Ansatz kennen, wissen Sie, dass ich „Bereitschaft, genau hinzuschauen“ als erste der drei Schlüsseldimensionen erfolgreichen Umgangs mit Veränderung bestimmt habe. Genau hinschauen ist etwas ganz anderes als festzustellen, dass der Status Quo unbefriedigend ist. Es beinhaltet vielmehr, so sorgfältig, sachlich und ehrlich wie möglich die Fakten der Ausgangslage unter die Lupe zu nehmen, zugleich auch in den Blick zu bekommen, welche Sichtweisen, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen dominant sind und ob diese helfen, die Situation produktiv anzugehen.

Dazu ein Beispiel.

 

„Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, mich selbst weiterzubringen“

Kürzlich wurde ich von einer Frau, Mitte dreißig, für eine Beratung kontaktiert. Sie will ihre Arbeitsstelle kündigen. Ihre Antwort auf meine Frage, wann unser Gespräch ihr etwas gebracht hätte, lautet: „Wenn ich wüsste, wie und ob ich meine Talente einsetzen kann; wenn ich eine Richtung finde, die mir entspricht. Ich denke nämlich, dass ich viel mehr leisten könnte, wenn ich in meiner Arbeit und meiner Identität ‚aligned‘ bin…. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, mich selbst weiterzubringen.“

Sie ist fest entschlossen, ihre Arbeitsstelle zu kündigen. Sie will weg – doch wohin? Sie will ihr bisheriges Fachgebiet verlassen und etwas völlig anders machen, hat aber kein klares Bild, was das sein könnte. Sie wünscht, dass ich ihr dabei helfe, ihre Talente in den Blick zu bekommen und damit eine Grundlage zu schaffen, auf der sie eine Entscheidung treffen kann.

Das geht mir zu schnell.

Ich schlage vor, erst einmal genau hinzuschauen und die Ausgangslage unter die Lupe zu nehmen. Dabei zeichnen sich zwei Dinge ab:

Einerseits wird rasch klar, dass sie sehr talentiert ist in ihrem Fach und in ihrer Aufgabe. Ich habe es mit einer hochkompetenten, pfiffigen, fähigen Frau zu tun, die außerordentlich jung in eine sehr verantwortungsvolle Führungsfunktion über ein kleines Team gekommen ist. Kein Zweifel, dass sie sehr intelligent ist, Situationen und Menschen blitzschnell erfasst, Verantwortung übernimmt, Entscheidungen trifft, anpackt, Probleme sieht, benennt und Lösungen findet. Sie hat den Anspruch an sich selbst, an ihre Mitarbeitenden sowie auch an die Kultur in ihrer Organisation, dass gemeinsam an stetiger fachbezogener und auch persönlicher Weiterentwicklung gearbeitet wird – im Dienst der Sache und auch, weil es Freude macht, gute Resultate zu erzielen mit zufriedenen Kunden, die gut betreut werden. Ihr Wunsch ist es, dass in ihrem Team professionell und effektiv gearbeitet wird und es zugleich einen guten, offenen und ambitionierten Geist gibt, fachlich und persönlich. Soweit so gut.

Andererseits wird ebenso rasch klar, dass sie sich in ihrem Umfeld unwohl fühlt. Ihre Vorgesetzten sind in erster Linie auf Performance in Zahlen ausgerichtet und scheinen sich wenig um Qualität der Arbeit zu kümmern. Im Team gibt es Mitarbeitende, die mit möglichst wenig Aufwand rasch zum Ziel kommen wollen und nötige oder sinnvolle Entwicklung als Störung von Routine auffassen im Sinne von „Das haben wir schon immer so gemacht“. Die Beratungskundin sieht, dass teilweise gepfuscht wird, was in ihrer Arbeit fatale Auswirkungen haben kann. Sie erhält wenig Rückendeckung ihrer Vorgesetzten, fühlt sich auf beiden Seiten mit Menschen konfrontiert, die nicht interessiert scheinen, gemeinsam Wichtiges zu erreichen. Sie erzählt, dass sie diese Situation zunehmend zu frustrieren, zu stressen begonnen hat und sie an ihrer Kompetenz, ihren Talenten und ein Stück weit auch an sich zweifelt. Sie will nicht nur den Job kündigen, sondern auch etwas völlig anderes machen. Sie will herausfinden, was ihre Talente sind.

Kurz: Ich habe es mit einer Person zu tun, die über ausgesprochenes Führungstalent verfügt und sehr gut in ihre Funktion passt, aber Energie verliert und Zweifel entwickelt, weil sie sich so unwohl fühlt im Umfeld.

Genaues Hinschauen ergibt ein anderes Bild als das, woran sie sich gewöhnt hat, worunter sie aber auch leidet: Sie stellt sich in Frage, suchte nach ihren Talenten – irgendwo an einem anderen Ort. Die real schwierige Situation am Arbeitsplatz hat aus dem Blick geraten lassen, dass ihre Arbeit sehr wohl ihren Talenten entspricht. Sie sucht außerhalb und realisiert nicht, dass sie dadurch nicht nur nicht ihre Talente findet, sondern zugleich und zusätzlich auch ein Gefühl von Mangel und damit auch Unzufriedenheit nährt.

Ich gebe ihr ein entsprechendes Feedback. Obwohl ihr im Gespräch selbst wieder deutlich wird, dass sie Führungstalent hat und ihre Arbeit mag, kann ich sie nicht überzeugen, einen Schritt zurück zu tun und zu schauen, wie sie bei Vorhandenem anschließen kann – unabhängig davon, zu welchen Entscheidungen dies führen wird. Sie hat sich an die Sichtweise gewöhnt, dass ihre Talente an einem anderen Ort, einer anderen Aufgabe liegen. Sie ist überzeugt, dass der Match zwischen Talent und Beruf nicht gut ist. Sie wünscht von mir Bestätigung ihrer Anschauungsweise.

Es ist nicht meine Absicht, Spielverderberin zu sein. Es liegt mir fern, eine Person überzeugen zu wollen, in einer Umgebung zu verharren, in der sie leidet. Meine Absicht ist es, dass Menschen verstehen, was los ist und wo anzusetzen ist – um angemessen vorgehen zu können. Meine Erfahrung ist es, dass es wichtig ist, Klarheit zu gewinnen – um nicht falsche Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen, die möglicherweise vom Regen in die Traufe führen.

In dieser Situation würde das heißen: Nicht beim Suchen nach Talenten anzusetzen, sondern gerade umgekehrt beim Erkennen vorhandener Talente sowie der Frage, wie diese (wieder) besser zum Einsatz kommen und weiterentwickelt werden können – noch unabhängig davon, ob das in der aktuellen Arbeitssituation genügend befriedigend umsetzbar ist, ob diese Talente in einer anderen Organisation im gleichen Fachbereich besser eingesetzt und wertgeschätzt werden oder am Schluss tatsächlich der Wechsel in eine ganz andere Tätigkeit eine gute Sache ist.

 

Bedürfnis nach Veränderung? Erst genau hinschauen!

Was dies in der Situation der Beratungskundin beinhalten könnte, aber auch in anderen Situationen hilfreich ist:

  • Annahmen überprüfen: Stimmen sie? Setze ich am richtigen Ort an? Das Beispiel macht deutlich, wie destruktiv es sein kann, von nicht überprüften Annahmen auszugehen. Die Annahme der Beratungskundin, ihre missliche Situation hätte mit mangelndem Talent zu tun und dass sie deswegen herausfinden müsse, wo ihre Talente liegen, begünstigt eine negative Spirale von Unzufriedenheit, Flucht, „mehr desselben“.
  • Vom erwünschten Resultat her denken. Hier etwa: Wie würde diese Organisation optimalerweise aussehen? Wenn die Beratungskundin in ihrem Element wäre, ihre vorhandenen Talente voll zum Einsatz bringen und am Morgen mit Freude zur Arbeit gehen würde: Wie würde sie sich als diese Person verhalten? Wie würde sie vorgehen? Wie würde sie die aktuelle Situation gestalten? Welche Gefühle hätte sie, wenn ihr dies gelingen würde? Wie wäre die Stimmung in der Organisation, bei den Mitarbeitenden? Worüber würde sie sich am meisten freuen?
  • Schritte umsetzen, Möglichkeiten ausloten und damit Basis legen für passende Entscheidungen und Wege. In dieser Situation etwa: Vorgesetzten gegenüber aufzeigen, dass vorgegebene, zahlenbezogene Targets besser erreicht werden können, wenn es ein Team gibt, das ambitioniert ist, qualitativ hochstehend zu arbeiten und entsprechend gefördert wird. Führungskompetenz nutzen, um Mitarbeitende, die „Dienst nach Vorschrift“ machen, anzusprechen – statt sich als „Eisbär in der Wüste“ zu fühlen. Visionen eines guten Matchs zwischen Targets und fachbezogener sowie persönlicher Entwicklung im Team kommunizieren und gemeinsam Ideen sammeln, wie in diese Richtung gearbeitet werden kann.
  • Erfahrungen sammeln und auswerten. In dieser Situation: Vielleicht würde die Beratungskundin erfahren, dass mehr möglich ist als gedacht. Vielleicht würde sie erfahren, dass frischer Schwung ins Team kommt, einzelne Mitarbeitende aufblühen, wenn sie gefördert werden, mitzudenken – statt von anderen gebremst oder als eine Art Störenfried abgestempelt zu werden. Vielleicht würde es dazu führen, dass Mitarbeitende mit einer „Dienst nach Vorschrift“- Haltung die Organisation verlassen. Vielleicht würde sie aber auch erfahren, dass es Grenzen gibt, ihr Einsatz nicht „ankommt“, vielleicht sogar als Bedrohung interpretiert wird. Dann wäre der Moment gekommen, um nach einer neuen Aufgabe Ausschau zu halten. Dies wäre dann aber möglich in einer aufrechten Haltung und sich selbst auf die Schulter klopfend – statt an sich zweifelnd und in Mangeldenken vom „grünen Gras auf der anderen Seite des Zauns“ träumend. Für Selbstwertgefühl eine bessere Basis – und mit mehr Aussicht auf Erfolg.
  • Mit sich statt gegen sich arbeiten. Mit einem solchem Vorgehen würde die Beratungskundin bei sich und vorhandenen Talenten anschließen. Statt diese in Zweifel zu ziehen, würde sie sie ins Zentrum stellen. Damit würde sie wieder Zugang finden zu sich selbst, ihrer Energie und Kreativität.
  • Positive Resultate im Hier und Jetzt ermöglichen und anziehen – statt in Mangeldenken von einem Wunder zu träumen. Menschen, die auf diese Weise genau hinschauen und Schritte umzusetzen beginnen, erfahren oft, dass Positives in Gang kommt – auch wenn sich andere Resultate zu anderen Zeitpunkten einstellen als gedacht und vielleicht erhofft. Nicht selten ergeben sich Lösungen – hier könnte dies etwa beinhalten, dass es zu einem Führungswechsel kommt, dass Mitarbeitende, die positive Prozesse erschweren, die Organisation verlassen. Oder dass sich von außen plötzlich und auf überraschende Weise neue Möglichkeiten ergeben – etwa ein neues Jobangebot von einer unerwarteten Seite. Oder – wer weiß – vielleicht ja wirklich eine zündende Idee einer ganz anderen Tätigkeit. Beides kann es dann sinnvoll und möglich machen, blitzschnell jene Veränderung zu wagen, die man sich gewünscht hat.

 

Übertragung auf andere Situationen

Natürlich ist jede Situation und Ausgangslage anders. Das Prinzip bleibt: Genau hinschauen ermöglicht passendes Vorgehen und „Zusammenarbeit mit sich selbst“ statt ohnmächtiges Verharren oder Flucht nach vorn. Doch wie könnte das in anderen Situationen aussehen, etwa wenn man sich in der sozialen Umgebung schlecht fühlt und sich nach Veränderung sehnt?

Auch hier ist es empfehlenswert, erst ein Bild zu entwickeln, wie diese Situation optimalerweise aussehen würde und wie man als Person, die bereits in dieser Situation lebt, jetzt denken, fühlen und sich verhalten würde. Etwa: Wie würde ich mich als Person verhalten, die happy ist in der sozialen Umgebung? Wie könnte ich mich anders verhalten als in die ewig gleichen Diskussionen abzudriften? Wie könnte ich mich einbringen, statt zu erwarten, dass andere wissen, was meine Bedürfnisse sind? Auf dieser Basis kann man auch hier in Gang kommen und Schritte umsetzen.

Schließlich ein kurzer Ausblick auf Situationen, die mir vermehrt begegnen: Situationen, in denen Menschen klagen, dass durch alles, was mit Covid-19 einherging, Beziehungen unter Spannung geraten oder gar zerbrochen sind. Menschen, die erzählen, nicht mehr von Freunden eingeladen zu werden, weil sie anders denken. So erzählt ein Medizinstudent, eine ruhige, sachliche Person, die aber kritische Fragen stellt, dass er von Mitstudenten teilweise gemieden wird. Und sich selbst oft fremd fühlt. Eine Frau, mit der ich zufälligerweise privat ins Gespräch gekommen bin, beklagt sich, ihr Land nicht mehr zu kennen und am liebsten auszuwandern. Auch in solchen Situationen sind obige Schritte nicht verkehrt: Wie möchte ich sein? Wie würde ich mich hier und jetzt verhalten, sodass ich zu mir stehe, mich selbst nicht in Frage stelle oder isoliere, in Zweifel oder Depression absacke? Etwa: Ruhig, souverän und sachlich ansprechen, wie ich Veränderung wahrnehme und dass ich dies bedauere. Andere ins Nachdenken bringen: Wie kommst Du eigentlich darauf, dass Du die Dinge richtig siehst und ich daneben liege? Kontakt intensivieren mit Menschen, mit denen ich mich selbst sein kann. Vielleicht jene Kontakte abbrechen, die mir schaden – selbst wenn es die eigene Familie betrifft. Wie würde ich als Person denken, fühlen, mich verhalten, die hier Möglichkeiten hat, Einfluss zu nehmen und sich für positive Entwicklung einzusetzen?

Unabhängig von der Situation, bleibt das Prinzip das Gleiche. Sich ausrichten auf das, was man sich wünscht. Sich in die Situation und Gefühle hineinversetzen, in der man so lebt, als wäre dies schon Realität. Und Schritte umsetzen. Jeder Mensch, der das macht, ist ein Gewinn. Wir können nicht immer auswandern, unser Leben auf den Kopf stellen – aber wir können immer dazu beitragen, dass wir in Kontakt bleiben mit uns selbst, mit uns arbeiten statt gegen uns. Statt uns unglücklich zu machen mit dem Wunsch, dass alles anders wäre, können wir uns damit auseinandersetzen, wie wir uns für das einsetzen können, was uns wichtig ist. Das ist etwas anderes als sich als Opfer von Umständen zu fühlen, Schuldige zu suchen oder in Frustration, Angst, Ärger oder auch Depression abzudriften. Es sind Schritte, Gestalter zu bleiben – und seien die Spielräume noch so klein und die Situation noch so schlimm.

Von Herzen wünsche ich Ihnen, dass Sie Veränderungswünsche ernst nehmen – und erst genau hinschauen. Und dass Sie Mut und Wege finden, sich für positive Entwicklung einzusetzen. Im Kleinen, der aktuellen Situation. Es wird sich zeigen, ob so Dinge in Bewegung kommen – oder ob es schlussendlich doch eine gute Idee ist, „all in“ zu gehen und einen Neuanfang zu wagen.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

 


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