Compassion without wisdom never takes off

Grüezi – Guten Tag!

Perfekte Formulierungen lassen sich oft nur holprig übersetzen. Hier etwa: Empathie ist nur dann förderlich, wenn sie gekoppelt ist an Weisheit. Eine interessante Aussage gerade auch, wenn wir andere ermutigen oder befähigen wollen, kompetent mit Veränderung umzugehen. Mehr dazu in diesem Newsletter.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

„Compassion without wisdom never takes off” (Ajahn Brahm)

Kürzlich bin ich bei der Lektüre einer Kurzgeschichte auf diese Aussage gestoßen. Sie hat mein Interesse und meine Neugierde geweckt.

Wie einige von Ihnen wissen, ist Sri Lanka so etwas wie eine dritte Heimat geworden für mich. Dort ist auch ein großer Teil meines neuen Buches “Veränderungskompetenz fördern“ entstanden. Darum widme ich das Buch Chitra, in deren Haus und Garten wir während unseren Aufenthalten leben dürfen, mit der eine innige Freundschaft entstanden ist und die es schön fand, dass in ihrem Haus ein Buch geschrieben wurde 😊. Wie Sie vielleicht auch wissen, ist Sri Lanka stark vom Buddhismus geprägt. Dies kommt gerade auch im Alltag zum Ausdruck, etwa in der Art, wie Menschen miteinander umgehen oder im völlig selbstverständlich in den Tagesablauf integrierten Besinnungsmoment in einer der überall anzutreffenden Tempelanlagen. Der in Sri Lanka praktizierte Theravada-Buddhismus ist ausgerichtet auf Empowerment, darauf, dass jeder Mensch sich selbst entwickeln kann. Auch dies ist in der Gesellschaft verankert und kommt etwa darin zum Ausdruck, dass eine unserer engsten Freundinnen, heute 80 Jahre alt, in den 1960er Jahren Chemie studierte und uns erzählte, dass es damals in der neu errichteten Universität mehr studierende Frauen als Männer gab. Während einem unserer Aufenthalte lernten mein Mann und ich einen buddhistischen Mönch kennen. Daraus entwickelte sich ein sehr interessanter und angeregter Wissens- und Gedankenaustausch mit unseren unterschiedlichen und sich zugleich inspirierend ergänzenden Hintergründen. Via diese Person bin ich auf ein Büchlein mit Kurzgeschichten eines anderen Mönchs aufmerksam geworden. Darin stieß ich auf die Aussage, der ich diesen Newsletter widme.

Der Autor veranschaulicht seine Aussage mit einer schlichten Geschichte:

„A boy scout performed his good deed for the day by guiding an old lady across a busy road. The trouble was, she didn’t want to go; she felt too embarrassed to tell him.” Und er fügt an: „That story, unfortunately, describes well much that goes by the name of compassion in our world. We assume, too often, that we know what the other person needs.”

In Kürze: Ein Bub will seine tägliche gute Tat vollbringen, indem er einer alten Dame hilft, die Straße zu überqueren. Das Problem ist nur: Die Dame will gar nicht über die Straße. Sie ist zu höflich, um dies zu sagen. Der Autor will mit dieser Geschichte veranschaulichen, dass Compassion – ich übersetze dies hier so offen wie möglich als Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Empathie – nicht verwechselt werden darf mit der unüberprüften Annahme, zu wissen, was für eine andere Person gut, nützlich, hilfreich ist.

Im Alltag ist dies gar nicht immer so einfach: Wie schnell kann es passieren, dass wir sicher sind, zu wissen, was eine andere Person braucht. Wie schnell kann es passieren, dass wir mit Anregungen, Ratschlägen, Tipps kommen, die durchaus gut gemeint und vielleicht auch vernünftig, aber eben nicht an Weisheit gekoppelt sind. Die Weisheit, das zu fragen, zu sagen oder zu tun, was für eine Person wirklich nützlich, umsetzbar, sinnvoll ist.

 

„Compassion“ und „Wisdom“ in der Begleitung von Menschen in Veränderung

Das scheint mir ein sehr interessanter Gedankengang gerade auch, wenn es darum geht, wie wir Menschen begegnen, die etwas in ihrem Leben verändern wollen oder müssen – egal, ob es um die Freundin geht, die gerade von ihrem Mann verlassen worden ist, um den Beratungskunden, der sich beruflich neu ausrichten will oder muss oder um die Mitarbeiterin, deren Potential wir sehen und fördern wollen, die aber immer wieder davor zurückschreckt, neue Aufgaben zu übernehmen.

Compassion ist eine wichtige Ressource im Umgang mit anderen und gerade auch essenziell, wenn wir Menschen in Veränderungssituationen ermutigen oder befähigen wollen, auf eine Weise vorzugehen, die Erfolgserlebnisse ermöglicht und in gute neue Situationen führt. Um eine Person befähigen zu können, Veränderung auf eine Art anzugehen, hinter der sie selbst steht, die ihr entspricht, für die sie Schritte umsetzen will und kann, ist es essenziell, dass wir ein Bild bekommen, wie diese Person „funktioniert“. Das erfordert, dass wir uns selbst ein Stück zurücknehmen und uns in die Person und deren Situation hineinversetzen – ohne uns mit ihr zu identifizieren, zu werten oder gleich unsere eigenen Auffassungen, Erfahrungen, Interpretationen und unser Wissen und Know-how ins Spiel zu bringen. Das beinhaltet, dass wir die Person involvieren und ihr den Raum geben, zu erkunden: Worauf ist ihre Aufmerksamkeit gerichtet? Was denkt sie über ihre Situation, was hält sie für möglich oder unmöglich und wie kommt sie darauf? Wie begegnet sie ihrer Situation und was bewirkt sie damit? Was wäre für sie am hilfreichsten? Je mehr wir uns in der Kunst üben, wirklich offen, aufmerksam, im guten Sinn neugierig, wohlwollend und zugleich sachlich und emotional „detached“ auf eine Person einzugehen (fähig, unsere emotionalen Reaktionen zu erkennen und zugleich Führung über uns selbst zu behalten), desto mehr wird sich diese ernst genommen und verstanden fühlen. Das heißt nicht, dass wir mit ihr einverstanden sein, gut finden müssen, was wir von ihr erfahren oder – wenn wir als Professional arbeiten – den Kontext wie etwa einen Fachauftrag ausklammern. Das ist die Basis produktiver Prozesse.

Unter Weisheit verstehe ich hier die Fähigkeit, auf vorschnelle Interpretationen, gutgemeinte Ratschläge, Hilfestellungen, Vorschläge und Wissensvermittlung oder emotionale Reaktionen zu verzichten. Ich verstehe darunter die Fähigkeit, Mut aufzubringen und Zeit zu nehmen, vor jeder Intervention erst zu klären, wo die Person selbst steht; in meiner Arbeit mit Professionals höre ich immer wieder „Ich realisiere, dass ich das oft zu wenig mache, obwohl ich es will“. Es erfordert Mut, nicht auf häufige Haltungen zurückzugreifen wie „Keine Zeit“, „Gehört nicht in die Prozedur“ oder vielleicht eben auch „Ich weiß, was diese Person braucht“. Weisheit bedeutet, zu verstehen, dass Interventionen umso eher, schneller und effektiver greifen, je mehr eine Person sich verstanden fühlt und ihr zugetraut und zugemutet wird, sich zu involvieren – schließlich steht und fällt alles damit, ob und wie sie Schritte umsetzt. Das kann ihr niemand abnehmen. Die Praxis zeigt, dass dies, wenn es präzise und sachlich gemacht wird, meist viel weniger Zeit in Anspruch nimmt als gedacht und dass Prozesse umso flotter und nachhaltig wirksamer verlaufen. Unter Weisheit verstehe ich die Fähigkeit, unser Vorgehen auf Befähigung auszurichten: Es geht nicht darum, dass wir für uns selbst das „feel good“ einer „guten Tat“ erzielen wie der Bub, der der Dame über die Straße hilft. Es geht darum, dass unser Verhalten der anderen Person ermöglicht, das zu tun, was sie vorwärtsführt. Das ist nicht immer die Überquerung der Straße… bzw. es ist nicht immer das, was wir auf den ersten Blick für gut halten.

Wo Compassion und Wisdom auf diese Weise zum Team werden, kann es zum „take off“ kommen: Eine Person fühlt sich verstanden. Das beinhaltet nicht, dass wir gut finden müssen, was sie denkt, fühlt, tut. Es bedeutet, dass wir die Person befähigen, selbst zu denken, fühlen und tun, was gute Resultate ermöglicht.

 

Das „take off“ ermöglichen – Anregungen

Vielleicht wollen Sie einige Gedanken ziehen lassen:

  • Wann erfahre ich selbst „Compassion“ anderer – Interesse, Mitgefühl, Mitdenken, Hilfsbereitschaft – als ermutigend und hilfreich?
  • Wenn ich an Situationen denke, in denen ich durch das Mitdenken, die Unterstützung oder Hilfe anderer wirklich einen Schritt weitergekommen bin: Was hat dazu beigetragen? Was haben diese Menschen getan? Was haben sie nicht getan? Was genau hat mich befähigt, (mehr) in einer Weise vorzugehen, die gute Resultate ermöglichte?
  • Was leite ich daraus ab darüber, wie ich für andere nützlich und hilfreich sein kann?
  • Was sind meine Motive, was ist meine Intention, andere ermutigen oder befähigen zu wollen, Veränderungen anzugehen? In wessen Interesse stehen meine Motive?
  • Wie überprüfe oder stelle ich sicher, dass mein Vorgehen erwünscht und nützlich ist für die andere Person, dass sie damit etwas anfangen kann und will?

Wir können Menschen am besten ermutigen und befähigen, Wichtiges anzupacken, wenn wir unsere Erfahrung, unser Wissen, unsere Kompetenz und Kreativität verbinden mit aufrichtigem Interesse sowie Ausrichtung auf Empowerment. Unser Ziel ist es dann, dass andere uns nicht brauchen, sondern erfahren, selbst in die Lage zu kommen „to take off“ – zu fliegen, Neues zu erfahren, Erfolg zu erzielen.

In diesem Sinn finde ich den Satz „Compassion without wisdom never takes off“ und die Geschichte vom Buben, der der Dame über die Straße hilft, sehr inspirierend. Die Geschichte lädt uns ein, gute Intention zu verbinden mit Kompetenz und echter Befähigung. Dann verbinden sich Compassion mit Weisheit. Das beflügelt alle.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

 


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