Grüezi – Guten Tag!
In diesem Newsletter will ich einen vielleicht altmodisch anmutenden oder moralisch beladenen Begriff rehabilitieren. Anders gesagt: Ich lade Sie ein, sich zu vergegenwärtigen, dass und warum Dankbarkeit eine wichtige Ressource ist. Auch und gerade, wenn Situationen anspruchsvoll sind und es auf den ersten Blick wenig Anlass geben mag, dankbar zu sein.
Viel Anregendes wünscht Ihnen
Inhalte
- Dankbarkeit: Ein Begriff, dem ich in letzter Zeit öfters begegne
- Dankbarkeit erweitert das Blickfeld und aktiviert damit den (Re)Creation-Modus
- Anregungen, Dankbarkeit auf natürliche Weise zu aktivieren – im Hier und Jetzt
- Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
Dankbarkeit: Ein Begriff, dem ich in letzter Zeit öfters begegne
Ein essenzieller Teil meines Ansatzes liegt in der Entwicklung eines „motivierenden Horizonts“. In meinen Seminaren erläutere ich, wie durch die Entwicklung eines motivierenden Horizonts auf natürliche Weise positive Gefühle aktiviert werden und warum dies wichtig ist. Kürzlich kam in Anschluss an ein Seminar für Beratungsprofessionals ein Teilnehmer auf mich zu. Wir plaudern angeregt über das Seminar. Er bringt ein: „Ich habe bei Deinen Ausführungen zur Bedeutung positiver Gefühle das Wort ‚Dankbarkeit‘ vermisst.“
Dieses Gespräch inspirierte mich zu diesem Newsletter.
Bevor ich weiterfahre: Welche Assoziationen weckt der Begriff „Dankbarkeit“ bei Ihnen? Und: Wenn ich Sie fragen würde „Wofür sind Sie dankbar?“ – was würden Sie antworten?
Für einige unter Ihnen mag „Dankbarkeit“ altmodisch klingen. Vielleicht stößt Sie der Begriff ab, weil er an Menschen erinnert, die mit moralischem Unterton nahelegen: „Sei doch dankbar!“ Um klar zu sein: Das will ich mit diesem Newsletter nicht vermitteln.
Vielleicht ist „Dankbarkeit“ auch treue Begleiterin in Ihrem Alltag und haben Sie unmittelbar Assoziationen, wofür und warum Sie dankbar sind. Die Erinnerung daran bewirkt ein Smile auf Ihrem Gesicht.
Schließlich mag es Ihnen gehen wie einer Seminarteilnehmerin: „Ich bin so fokussiert auf alles, was gerade schwer und zu bewältigen ist, dass aus dem Blickfeld geraten ist, wofür ich dankbar sein kann – ich realisiere: Es gibt vieles!“
In letzter Zeit begegnet mir der Begriff „Dankbarkeit“ immer wieder:
In einem Seminar für medizinisch-therapeutische Professionals erzählt eine Teilnehmerin von einer 95-jährigen Frau, deren Vitalität sie beeindruckt. Sie habe diese Dame kürzlich gefragt, was ihr „Rezept“ sei, auf diese Weise alt zu werden. Die Antwort habe gelautet: „Jeden Morgen nach dem Erwachen bedanke ich mich für einen neuen Tag in meinem Leben und bin neugierig, was er mir bringen wird.“
Eine andere Teilnehmerin knüpft an: „Ich arbeite mit Jugendlichen mit psychischen Beeinträchtigungen, die Schwierigkeiten haben, eine Lehrstelle zu finden. Letzthin schlug ich ihnen vor, Steinchen zu legen für alles, wofür sie dankbar sind. Die erste Reaktion dieser Jugendlichen war konsterniert und irritiert: ‚Ist doch alles Scheisse, wir haben keinen Grund zu Dankbarkeit‘. Doch dann ließen sie sich dennoch auf das Experiment ein. Und es kamen sehr viele Steinchen zusammen! Die Jugendlichen waren überrascht und erstaunt, wie vieles es gibt, wofür sie dankbar sind. Stimmung und Dynamik wechselten völlig. Seither können wir schwungvoll und produktiv arbeiten. Und mit Erfolg!“
Meine 93-jährige Mutter hatte vor ihrem Tod diesen Frühling einen körperlich immer beschwerlicher werdenden Alltag. Früher oft gestresst und ängstlich, wurde sie in den vergangenen Jahren trotz zunehmenden Einschränkungen immer positiver und entspannter. Sie klagte nie, sagte sachlich, wenn es ihr nicht gut ging und freute sich von Herzen an allem Positiven: Schöne Erinnerungen, die Freiheit, in der eigenen Wohnung mit einem Minimum an Hilfe immer noch selbstständig schalten und walten zu können, ein Schwatz mit den freundlichen Frauen des Mahlzeitendienstes, der Weitblick aus der Küche, die Vögel vor dem Balkonfenster, unsere Gespräche, die Ansichtskarte einer Enkelin. Einmal erzählte sie mir: „Weißt Du, ich habe mir angewöhnt, am Abend vor dem Einschlafen zu danken, dass ich diesen Tag geschafft habe – und für alles, was mich an diesem Tag aufgestellt hat.“
Über dem Haus unserer ehemaligen Zahnärztin in Den Haag steht in kunstvoll gemalten Buchstaben „Dankbaarheid“. Die Zahnärztin, geborene Rumänin und hochtalentierte Zahnärztin, erzählte mir, dass sie jeden Tag neu dankbar ist für alles in ihrem Leben. Im Niederländischen nennt man dies „zegeningen tellen“ (Segnungen zählen). Und mit einem smile ergänzte sie: „Mit dem ‚Dankbaarheid‘ am Haus möchte ich mich, meine Kunden und Passanten ermuntern, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, wofür man dankbar sein darf.“
Die Beispiele veranschaulichen: Dankbarkeit erfordert nicht ein makelloses Traumleben. Man muss nicht auf bessere Zeiten warten, um Dankbarkeit zu aktivieren. Im Gegenteil: Zu realisieren, wofür man hier und jetzt dankbar sein kann, weitet das Blickfeld, verändert die Stimmung und wird so zur Ressource – auch und gerade in Situationen, in denen man gefordert ist.
Dankbarkeit erweitert das Blickfeld und aktiviert damit den (Re)Creation-Modus
Was passiert eigentlich, wenn wir uns wie die betagten Damen, die Jugendlichen oder die Zahnärztin vergegenwärtigten, wofür wir dankbar sind?
- Wir treffen eine Entscheidung. Viele Menschen fokussieren intuitiv und natürlich auf das, wofür sie dankbar sind. Bei vielen geht das nicht automatisch. Oft – und gerade in schwierigen Situationen – erfordert es eine bewusste Entscheidung: Die Entscheidung, sich nicht in negativen Spiralen zu verlieren. Die Entscheidung, zu erkunden, wofür man dankbar sein kann.
- Wir lenken unsere Aufmerksamkeit. Weg von dem, was schwierig, belastend ist. Hin zu dem, was Energie gibt. Das ist entscheidend: Worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken, wird „lebendig“ und führt zu mehr desselben. Im Positiven wie im Negativen. Und: Neurobiologisch wechseln wir damit vom limbischen System in den Neocortex. Das heißt: Wir unterbrechen den „Autopiloten“ automatisierten Fühlens und Verhaltens und aktivieren bewusstes Beobachten. Wir übernehmen Regie.
- Das Blickfeld weitet sich. Wir realisieren, dass es mehr gibt als das, was uns aktuell beschäftigt und auf Trab hält. Wir wechseln von einem engen Fokus zu einem offenen Fokus. Damit gewinnen wir zugleich Distanz.
- Ressourcen kommen in den Blick. Es kommt in den Blick, was gut ist, funktioniert, Freude macht, Energie gibt, ermutigt: Dinge, die wir gewagt, gemeistert, geschafft und erreicht haben. Schöne Erinnerungen. Menschen, die uns inspirieren. Unterstützende Rahmenbedingungen. Energiespender: Der Morgenkaffee, ein Spaziergang, Musik, der hilfsbereite Nachbar, die gutgelaunte Kollegin am Arbeitsplatz, ein sonniger Tag. Wir realisieren, dass es vieles gibt, woran wir uns gewöhnt haben und was doch nicht selbstverständlich ist: Ein Körper, der mitmacht. Eine Wohnung, in der wir uns wohl fühlen. Finanzielle Mittel. Leckeres Essen. Ein Job. Die Möglichkeit, uns frei zu bewegen.
- Positive Gefühle werden aktiviert. Indem wir realisieren, wofür wir dankbar sein können, aktivieren wir positive Gefühle: Wir sind etwa positiv überrascht, fühlen uns gestärkt, ermutigt, freudig, zuversichtlich. Diese positiven Gefühle lassen uns auch Schwieriges oder Belastendes noch anders wahrnehmen. Und sie geben uns Energie.
- Wiederholung wird zur guten Gewohnheit. Wer sich wie die beiden betagten Damen täglich vergegenwärtigt, wofür man dankbar sein kann, wird feststellen, dass es zur natürlichen Gewohnheit wird, Energiespender wahrzunehmen. Auf Dauer wird man auf einer Art positivem „Autopiloten“ all dies schätzen, sich daran freuen, daraus Kraft tanken. Zugleich stellen sich Gehirn und Körper auf die positiven Signale bzw. die damit verbundenen Gedanken und Gefühle ein. Damit bin ich bei einem essenziellen Punkt:
Was in diesem Prozess geschieht: Wir wechseln neurobiologisch/physiologisch in den (Re)Creation-Modus. Wir geben unserem Gehirn das Signal „Es gibt hier Anlass zu Zuversicht!“ Erkennen und Wertschätzen positiver Lebenselemente (Kognition) verbindet sich mit angenehmen Gefühlen (Emotion). Die damit verbundenen neurochemischen Signale und Prozesse ermöglichen unserm Gehirn und Körper, mehr in einen Entspannungsmodus (Recreation) zu kommen und damit zugleich besser funktionieren zu können. Dies ist essenziell – mental und körperlich. Wir haben ein breiteres Blickfeld und können damit besser Überblick gewinnen und Ressourcen erkennen. Wir können ruhiger und klarer denken. Wir kommen in Kontakt mit uns, unseren Ressourcen, unserer Kreativität (Creation). Wir mobilisieren Energie. Unser Körper kann neue Kräfte aufbauen, wir bleiben eher gesund.
Es wird deutlich, warum Dankbarkeit alles andere als eine verstaubte Floskel ist. Die Vergegenwärtigung, wofür wir dankbar sein können, ermöglicht uns, strukturell mehr in den Modus zu kommen, in dem wir unser Leben gestalten, Wichtiges erreichen, Lebensqualität und -freude „nähren“ und mental und körperlich stark und gesund bleiben können.
Wir brauchen nicht darauf zu warten. Wir brauchen nicht auf bessere Zeiten zu hoffen und uns in der Zwischenzeit elend zu fühlen. Dann werden wir nie erfahren, dass wir die mit Dankbarkeit verbundenen positiven Gefühle aktivieren können, sich dadurch Stimmung und Dynamik in unserem Leben verändern wie bei den Jugendlichen. Dankbarkeit wartet sozusagen höflich, bis wir sie in unser Leben einladen.
Indem wir uns hier und jetzt vergegenwärtigen, warum und wofür wir dankbar sein können, holen wir Wünschenswertes in die Gegenwart. Wir erfahren, dass es hier und jetzt vieles gibt, worüber wir uns freuen, was wir schätzen können und was Energie spendet. Damit ermöglichen wir, dass dieses sich vermehren kann. Indem sich die beiden betagten Damen daran orientieren, wofür sie dankbar sein können, holen sie Erwünschtes in die Gegenwart. Indem die Jugendlichen Steinchen legen für alles, wofür sie dankbar sein können und was also bereits Realität ist, gibt es mitten in der aktuellen Situation bereits einiges, wofür es sich lohnt, auch Schwieriges anzupacken. Sie holen die Zukunft in die Gegenwart. Das damit verbundene positive Gefühl gibt Energie, zu gestalten – statt zu verharren und abzudriften in dem, was schwierig, anstrengend ist.
Anregungen, Dankbarkeit auf natürliche Weise zu aktivieren – im Hier und Jetzt
- Rituale, Dankbarkeit in den Tagesablauf zu integrieren: Vielleicht wollen Sie sich inspirieren lassen von den erwähnten Beispielen. Es ist wie jede Gewohnheit: Je öfter Sie sich vergegenwärtigen, wofür Sie dankbar sind, desto mehr kommen Sie auf natürliche Weise in einen positiven Modus.
- Emotional rehearsal: Man kann „Dankbarkeit“ wie jedes Gefühl trainieren. Etwa, indem Sie nach dem Erwachen am Morgen nicht gleich an alles denken, was Sie an diesem Tag müssen, sondern erst ins Gefühl gehen, wofür Sie dankbar sein können. Louise Hay, die Gründerin des Verlags Hay House, erzählte einmal, sie genieße nach dem Erwachen immer ein paar Minuten das wohlige Gefühl des warmen Bettes und sei dankbar, dass sie eine gute Nacht darin hatte. Ich nenne dies „positive Gefühlsdusche“. Das mag merkwürdig klingen – „ich habe doch so viel am Hut heute!“ –, ist aber auf Dauer sehr wirksam: Sie geben damit Ihrem Gehirn ein positives Signal, kommen in gute Stimmung. Sie ermöglichen sich einen entspannten und zugleich dynamischen Einstieg in den Tag.
- „Managing your mind“: Zentrales Element im Buddhismus ist es, unsere Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und Führung darüber zu übernehmen. Das ist alles andere als naiv „spirituell korrekt“. Es ist die Kunst und das Training, Führung über uns selbst zu übernehmen. Hier könnte das heißen: Wenn Sie realisieren, in schlechte Stimmung, Aufregung, Stress zu geraten, können Sie sich angewöhnen, kurz innezuhalten, zu beobachten, welche Gedanken und Gefühle Sie gerade umtreiben, trainieren, diese zu unterbrechen und Ihre Aufmerksamkeit bewusst darauf zu lenken: Was war es auch schon wieder, wofür ich dankbar sein kann? Mit Übung werden Sie erfahren, dass Sie so in eine andere Stimmung kommen – und gerade so besser erkennen, was eigentlich los ist und Ideen entwickeln, was ein gutes Vorgehen ist.
Selbst schaue ich enorm dankbar auf dieses für mich sehr intensive Jahr zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Dankbarkeit“ verstärkt dies zusätzlich. Ich wünsche, dass auch Sie dieses Jahr abschließen können mit lebendiger Dankbarkeit für alles, was gut, erfrischend, erfreulich, positiv überraschend war und Sie in Ihrer Entwicklung gestärkt hat.
Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
- Ich hatte es eingangs dieses Newsletters vom „motivierenden Horizont“. Mehr dazu:
- Auf unserer Website: Der „motivierende Horizont“ ist Teil der zweiten der drei Schlüsseldimensionen erfolgreichen Umgangs mit Veränderung und damit integrativer Bestandteil des Veränderungskreises ©;
- In meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“. Kapitel 2 „Entschlossenheit und Mut, vorwärtszugehen: Entscheiden und handeln“ erläutert ausführlich, was ein motivierender Horizont ist und warum ein solcher essenziell ist. Mit vielen Beispielen und praktische Anregungen;
- In meinem Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“ finden Sie darüber hinaus neurobiologische Hintergründe.
- Wer realisiert, wofür er oder sie dankbar sein kann, aktiviert positive Gefühle. In der Psychologie nennt sich dies „Gefühlsregulierung“. Mehr dazu:
- In meinem Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“, dort zu Julius Kuhls PSI-Theorie, wonach die Fähigkeit, negative Gefühle auszuhalten ohne darin abzudriften sowie die Fähigkeit, positive Gefühle zu aktivieren, essenziell ist in der Lebensgestaltung generell und erst recht in der Bewältigung von Schwierigem.
- Im Newsletter 2020/04: „Die Kunst der Selbstberuhigung“
- Im Newsletter 2023/06: „Emotional rehearsal – positive Gefühle aktivieren“
- im Newsletter 2023/03: „Ruhe kreieren“
- Im Newsletter 2019/04: „Wenn Gefühle Entwicklung erschweren“
- Zum Stress- vs. (Re)Creation-Modus:
- Auf unserer Website unter „Verharren vs. Aufbrechen“ (etwas nach unten scrollen);
- In meinem Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“;
- In mehreren Newsletter-Ausgaben, etwa Newsletter 2022/05: „Entspannt sein in angespannten Zeiten?!“
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- das Buch Veränderungskompetenz fördern direkt kaufen beim Verlag (in Deutschland versandkostenfrei; wenn Sie in der Schweiz versandkostenfrei bestellen möchten, machen Sie dies am besten in jeder Buchhandlung, via Exlibris oder über Amazon Deutschland (dort evtl. mit Zollgebühren)
- das Buch Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen direkt kaufen beim Verlag
- das Buch Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern ist vergriffen, aber in Bibliotheken ausleihbar. Oder kontaktieren Sie mich.
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- Sibylle Toblers Hintergrund
- Sibylle Toblers Konzept zu den Schlüsseldimensionen erfolgreichen Umgangs mit Veränderung (Veränderungskreis ©)
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