Grüezi – Guten Tag!
Wie kommt es, dass sich gutes Neues nicht immer gut anfühlt? Wie kommt es, dass Menschen in unbefriedigenden Situationen bleiben – obwohl sie sich Veränderung wünschen? Wie kommt es, dass sich Menschen in immer wieder gleichen beeinträchtigenden emotionalen Reaktionen verfangen – obwohl sie damit mehr desselben bewirken, was sie nicht wollen oder obwohl Umstände dazu keinen Anlass geben und sie selbst nicht verstehen, was los ist? Mit diesem Newsletter möchte ich Aha-Erlebnisse ermöglichen und ermutigen im Umgang mit einem Phänomen, das nicht ganz so mysteriös ist wie es scheint.
Viel Anregendes wünscht Ihnen
Inhalte
- Wenn sich gutes Neues nicht gut anfühlt
- Emotional addiction: Wenn der Bauch auf Autopilot ist
- Die „wild animals managen“: Anregungen zum Umgang mit emotional addiction
- Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
Wenn sich gutes Neues nicht gut anfühlt
Im letzten Newsletter ging es ums Phänomen, dass Menschen, die entschlossen und mutig Schritte aus einer Opferspirale wagen, positive Gefühle entwickeln, die sie selbst manchmal wie „magisch“ erfahren.
Heute nehme ich ein Phänomen unter die Lupe, das viele kennen und das genau das Gegenteil zu sein scheint: Gutes Neues fühlt sich nicht immer gut an. Präziser formuliert: Man wagt gutes Neues nicht oder lässt sich unterwegs verunsichern durch starke Gefühle, die davon abhalten, umzusetzen, was man umsetzen will.
Ich denke dabei an
- Menschen, die sich einen befriedigenderen Job wünschen, endlich aus einer destruktiven Beziehung aussteigen, gesünder leben wollen oder sich grundsätzlich nach einem Leben sehnen, bei dem sie am Morgen gerne aufstehen. Doch Schritte, die Neues ermöglichen, fühlen sich nicht gut an. Alles bleibt wie es ist. Manchmal über viele Jahre.
- Menschen, die mutig neue Schritte gewagt und erfahren haben, dass dies positive Gefühle wie Freude, Befreiung, Erleichterung, Zuversicht, Mut, Selbstvertrauen auslöste. Doch dann kommen sie ins Stolpern. Alte, vertraute Gefühle und damit verbundene Gedanken machen sich breit und halten sie davon ab, gut Begonnenes fortzusetzen. „Bin ich wirklich gut unterwegs?“, „Was, wenn ich doch keinen Partner finde?“, „Ist dies alles nur Utopie – etwas, was andere verwirklichen können, aber ich…“, „Werde ich das durchhalten?“, „Bin ich auf Ego-Trip?“
- Menschen, die einen guten Job, einen netten Partner, eine schöne Wohnumgebung haben – und doch von alten Gefühlen eingeholt werden, trotz allem Positiven unzufrieden, unglücklich, ärgerlich, depressiv sind, an sich zweifeln usw. Oft können sie sich selbst nicht verstehen. Vielleicht leiden sie daran, nicht einfach zufrieden sein zu können. Oder sie fühlen sich vom Umfeld nicht verstanden, das ihnen vermittelt: „Du hast doch keinen Grund, schlecht drauf zu sein.“
Jede Veränderung erfordert Mut und kann ungute Gefühle auslösen. Diese können auf Wichtiges aufmerksam machen, auf reale Risiken, darauf, dass einzelne Aspekte besser angeschaut werden müssen. Viele Menschen meinen, „das Gras auf der anderen Seite des Zauns ist grüner“ und flüchten abenteuerlich in Neues – um sich dann wieder in den vertrauten Gefühlen zurückzufinden. Bei jeder Veränderung ist es daher essenziell, genau hinzuschauen, sich eigener Motive (warum will ich das eigentlich) und Gefühle (worauf freue ich mich, was lässt mich zögern) so bewusst wie möglich zu werden, ein realistisches Bild der Risiken zu bekommen und zu klären, wie man darauf einspielen kann und will. Das ist die Grundlage, auf der Veränderung gewagt, Risiken bewusst, aber nicht kopflos eingegangen werden können.
Doch hier habe ich es von Situationen, in denen eine Person genau hingeschaut hat und rational alles auf Grün steht für positive Veränderung, sich aber starke Gefühle einstellen, die man selbst nicht so gut verstehen kann, die nicht zur aktuellen Situation passen und die zurück in den Status Quo ziehen.
Oft grübeln Menschen dann über mögliche Gründe, versuchen, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden, reden sich gut zu, gehen auf „Beratungsshopping“, um erklärt zu bekommen, was sie machen sollen, versuchen, sich mit vorübergehenden „feel goods“ in andere Stimmung zu bringen. Vielleicht fangen sie an, Schuld(ige) zu suchen, legen sich allerlei Interpretationen zurecht oder geben sich Mühe, „positiv“ zu sein. Selten führt das zur erwünschten Veränderung. Die beeinträchtigenden Gefühle gedeihen.
Was ist hier los?
Kopf und Bauch ziehen nicht in dieselbe Richtung. Der Kopf will Neues. Der Bauch bleibt beim Vertrauten. Kognitiv will man aufbrechen. Emotional bleibt man hängen. Der Bauch „gewinnt“.
Darüber gibt es uferlos Diskussionen, Theorien und Strategien.
Selbst orientiere ich mich bei diesem Phänomen an neurobiologischem Wissen. Ich halte es für überaus nützlich, besser zu verstehen, wie unser Denken, Fühlen und Verhalten in einer Wechselwirkung stehen und wie dies mit neurobiologischen Prozessen zusammenhängt. Die Praxis zeigt, dass entsprechendes Wissen überaus befreiend ist – gerade in Situationen, in denen sich Menschen wie verhext selbst sabotieren. Immer wieder erfahre ich, dass sie mit Aha-Erlebnissen reagieren und erleichtert sind, besser zu verstehen, warum sie verändern wollen und doch hängen bleiben in den vertrauten beeinträchtigenden Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen. Daher integriere ich dieses Wissen in meinen Ansatz und nehme es in meinem neuen Buch „Veränderungskompetenz fördern“ auf.
In Situationen, in denen ungute Gefühle stets wieder verhindern, gutes Neues zu wagen, gibt es hier einen interessanten Aspekt: Emotional addiction. Das heißt: Eine Person bzw. deren Körper hat sich gewöhnt an eine bestimmte Gefühlslage. Wir alle haben solche emotionale Grundstimmungen, die wir im Lauf des Lebens entwickeln. Was erschreckend klingen mag (huch, ich bin doch nicht süchtig?!), ist nüchtern betrachtet logisch erklärbar. Und setzt damit in die Lage, sich selbst zu befreien.
Emotional addiction: Wenn der Bauch auf Autopilot ist
Erlauben Sie mir, etwas auszuholen.
Unser Denken, Fühlen und Verhalten gehen einher mit unzähligen komplexen Prozessen in Gehirn und Körper. Jeder Gedanke bewirkt eine Kaskade neuronaler, chemischer, biologischer und genetischer Prozesse. Diese Prozesse lösen Gefühle aus und steuern das Verhalten. Wenn wir unsere beste Freundin sehen, werden wir andere Gedanken und Gefühle haben und uns anders verhalten als wenn wir unseren Arbeitskollegen sehen, der uns immer wieder Arbeit zuschieben will. Bei der besten Freundin werden wir positive Gefühle haben, beim Arbeitskollegen negative. Jedes Gefühl geht einher mit spezifischen chemischen Prozessen in Gehirn und Körper. Die positiven Gefühle zur besten Freundin sind mit anderen chemischen Prozessen verbunden als die negativen Gefühle zum Arbeitskollegen.
Nun ist wichtig, zu verstehen, dass unser Gehirn und unser Körper auf Gleichgewicht ausgerichtet sind. Wenn wir immer wieder dasselbe denken, fühlen und tun, stellen sie sich darauf ein – inklusive aller physiologischen Prozesse. Wenn wir immer wieder denken „ich bin vom Leben benachteiligt“ und entsprechende Gefühle haben, geht das mit anderen Prozessen einher als wenn wir immer wieder denken „ich bin voller Ideen, was ich in diesem Leben alles machen will“ und entsprechend andere Gefühle haben. Es werden andere neuronale und chemische Prozesse ausgelöst. Auf die Dauer stellen sich Gehirn und Körper darauf ein. Hier sind insbesondere die chemischen Prozesse interessant, denn diese sind mit unserer Gefühlslage verbunden. Wenn wir uns immer wieder depressiv fühlen, ist dies mit anderen chemischen Prozessen verbunden als wenn wir uns immer wieder freuen über Möglichkeiten, die das Leben für uns bereit hat. Unser Körper stellt sich auf die entsprechenden chemischen Signale ein – er sagt nicht „Du solltest aufhören, dich depressiv zu fühlen, das ist auf Dauer gesundheitsschädigend“. Das geht so weit, dass die Zellen im Körper zusätzliche Rezeptoren bilden für dieses spezifische chemische Signal, sodass sie dieses noch besser verarbeiten können. Mit der Zeit entsteht ein Gleichgewicht.
Wenn nun eine Person, die sich an eine beeinträchtigende Gefühlslage gewöhnt hat – etwa, am Leben zu leiden –, entscheidet, etwas am eigenen Denken und/oder ihrer Lebenssituation zu verändern, um aus der misslichen Lage hinauszukommen, dann bewirkt sie damit neue neuronale und chemische Signale. Und was passiert? Der Körper, der sich an die mit „Leiden“ verbundenen chemischen Signale gewöhnt hat, meldet dem Gehirn: „Ich bin aus dem Gleichgewicht. Mir fehlt dieses spezifische chemische Signal, das mit ‚Leiden‘ verbunden ist.“ Weil Gehirn und Körper auf Gleichgewicht ausgerichtet sind, bewirkt dieses Feedback, dass es wieder zu den vertrauten Gedanken und damit auch Gefühlen kommt. Im Kern ist dies buchstäblich eine Entzugserscheinung. Wenn ich anfange, mich auf positives Neues auszurichten, mich damit auseinandersetze, wie ein Leben ohne Leiden aussehen würde, welche Schritte ich dafür tun kann, welche Gedanken ich als solche Person hätte usw., fehlen dem Körper die chemischen Stoffe, die mit „Leiden“ verbunden sind und an die er sich oft über lange Zeit gewöhnt hat. Daher sendet er dem Gehirn einen Alarm, was zu Wahrnehmungen führt wie „Oh, das ist nicht gut, was ich hier vorhabe“, „Es fühlt sich nicht gut an, ich hab’s ja gewusst, bei mir funktioniert das nicht“, „Vielleicht sollte ich das doch nicht tun“. Die Chance ist groß, dass die Person zurückfällt in ihr altes, vertrautes Muster von Denken, Fühlen und Verhalten – physiologisch finden Gehirn und Körper ins vertraute Gleichgewicht zurück. Auch, wenn dieses schädlich ist und die Person mental und vielleicht auch körperlich unter den Folgen ihres beeinträchtigenden Denkens, Fühlens, Verhaltens und der damit zusammenhängenden Lebenssituation beträchtlich leidet.
Die „wild animals managen“: Anregungen zum Umgang mit emotional addiction
- Wenn immer sich ungute Gefühle einstellen, ist es essenziell, nicht darüber hinwegzugehen. Negative Gefühle unterlaufen produktives Handeln. Sie können noch so positiv denken – wenn der „Bauch“ nicht mitmacht, wird es im besten Fall anstrengend, im schlechtesten kommt es zu „mehr desselben“ („wieder nicht geschafft, ich hab‘s ja gewusst…“), was destruktive Muster stärkt, auch physiologisch.
- Wie erwähnt: Wenn Sie Neues wagen, aufbrechen, Ihr Leben mehr gestalten wollen und sich dabei ungute Gefühle einstellen, muss es nicht immer emotional addiction sein. Es können auch wichtige Warnsignale sein, dass Sie etwas übersehen haben, genauer anschauen sollten.
- Es ist nicht immer einfach, dies voneinander zu unterscheiden. Eine Faustregel: Je heftiger, hartnäckiger, unerklärbarer und dauerhafter ungute Gefühle sind und je weniger sie in der aktuellen Situation rational adäquat sind, umso eher haben Sie es mit „emotional addiction“ zu tun. Die folgenden Schritte helfen, mehr Klarheit zu gewinnen und angemessen vorzugehen.
- Genau hinschauen: Welches Gefühl ist dominant? Wie lässt es sich mit einem Stichwort benennen? Worauf bezieht es sich? Mit welchen Gedanken, Überlegungen, Annahmen, Erfahrungen ist es verbunden? Wie bezieht sich dieses Gefühl auf die aktuelle Situation? Hilft es, Wichtiges unter die die Lupe zu nehmen, sodass Sie besser handeln können?
- Wenn Sie ein klares, realistisches Bild der Veränderungssituation, Ihre Motive überprüft, Risiken abgewogen haben und dennoch vertraute ungute und heftige Gefühle nicht verschwinden, helfen die beiden nächsten Schritte:
- Üben, das alte Gefühl zu erkennen und zu unterbrechen, wann immer es aktiviert wird. Indem Sie es erkennen, unterdrücken Sie es nicht – das ist sehr wichtig. Indem Sie ein Gefühl erkennen ohne ihm Macht über Ihr Entscheiden und Handeln zu geben, stoppen Sie den Autopiloten. Sie unterbrechen die gewohnten chemischen Prozesse. Das kann sich sehr unangenehm anfühlen, ist aber Basis für Veränderung. Indem Sie dies tun, lernen Sie, die „wild animals zu managen“, wie dies ein befreundeter buddhistischer Mönch nennt.
- Sich damit auseinandersetzen, wie Sie sich fühlen werden, wenn Sie das alte Muster abgelegt und erfolgreich umgesetzt haben werden, was Sie sich wünschen. Wie wird es sich anfühlen, wenn Sie sich in einer Beziehung frei und ebenbürtig fühlen? Wie wird es sich anfühlen, wenn Sie den neuen Job gefunden haben und am Morgen mit Freude zur Arbeit gehen? Wie wird es sich anfühlen, wenn Sie die neue schöne Wohnung gefunden haben? Welche Gefühle wird es auslösen, wenn Sie alte destruktive Gefühle nicht mehr haben? Welche Gedanken werden Sie haben, wenn Sie sich so fühlen werden? Was werden Sie dann tun? Damit aktivieren Sie neue neuronale und chemische Prozesse – wir wissen heute, dass sich Gehirn und Körper dabei buchstäblich – physiologisch – auf das Neue einzustellen beginnen, als ob dieses schon Realität wäre. Sie legen buchstäblich den Boden, auf dem Neues wachsen kann.
Es würde mich freuen, wenn Sie besser verstehen, was Sie sicherlich auch schon erfahren haben. Und es würde mich noch mehr freuen, wenn Sie selbst erfahren, dass die „wild animals“ immer weniger Macht haben über Ihr Denken, Fühlen und Verhalten und sich dies sehr befreiend anfühlt und auswirkt.
Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
- Eine einfach verständliche Erläuterung zum Kreislauf von Denken-Fühlen-Verhalten und den damit zusammenhängenden physiologischen Prozessen sowie auch kurz zum Phänomen der „emotional addiction“ finden Sie in meinem neuen Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“ Auch wenn ich das Buch für Professionals geschrieben habe, so kann es auch für alle interessant sein, die mehr darüber wissen wollen. Schließlich kann man auch Professional bei sich selbst sein 😊. Eine Idee, um was für ein Buch es sich handelt, gibt mein Newsletter zum neuen Buch, den ich diesem zur Feier des Publikationstages gewidmet habe.
- Meine beiden Bücher „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“ sowie „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“ geben viele Anregungen, um Sicht-, Denk-, Gefühls- und Verhaltensweisen zu entwickeln, die ermöglichen, das Leben zu gestalten statt sich selbst zu sabotieren.
- Vielleicht interessieren Sie in diesem Zusammenhang (in chronologischer Reihenfolge):
- Newsletter 2019/04: „Wenn Gefühle Entwicklung erschweren“
- Newsletter 2018/01: „Neue Muster entwickeln“
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