Empowerment oder Solidarisierung?

Grüezi – Guten Tag!

Es gibt Menschen, die mit ihrer Haltung andere inspirieren, ermutigen, empowern. Und es gibt Menschen, die mit ihrer Haltung andere bestärken, im Status Quo zu bleiben. In diesem Newsletter geht es um Haltungen von Professionals, die Menschen in Veränderungssituationen begleiten. Die Thematik spielt aber auch in der Art, wie wir als Privatpersonen anderen begegnen. Daher freut es mich, wenn Sie auch dann weiterlesen, wenn Sie nicht beruflich andere Menschen begleiten.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

Empowerment oder Solidarisierung? Drei Beispiele

Das kennen Sie: Es gibt Menschen, in deren Umgebung fühlen Sie sich wohl, inspiriert, empowert. Und es gibt Menschen, in deren Umgebung erhalten Sie wenig Energie. Es entsteht eine Wechselwirkung – Positives verstärkt sich, Negatives auch.

So weit so klar.

Die Aussage eines Laufbahnberaters, der mit mir im Rahmen einer Supervision seine Arbeit weiterentwickelt, hat mich zu diesem Newsletter inspiriert. Am Schluss unseres letzten Gesprächs erzählt er: „Alle Schüler und Schülerinnen einer Schulklasse, die ich zusammen mit der Lehrerin bei der Berufswahl unterstütze, haben eine Lehrstelle gefunden! Und dabei ist es für Schüler und Schülerinnen dieser Schulstufe üblicherweise eher schwer, einen guten Einstieg in Berufsausbildung und Berufsleben zu finden.“ Ich frage ihn, was zu diesem Erfolg beigetragen haben könnte. Er antwortet spontan: „Es ist eine tolle Lehrerin. Sie hat eine sehr gute Haltung. Sie glaubt an ihre Schüler. Sie fördert sie. Sie fordert sie auch. In einem guten Geist. Sie lebt Dein Konzept, den Veränderungskreis ©: Sie schaut genau hin, entwickelt mit den Jugendlichen motivierende Horizonte, lässt sie Schritte machen, freut sich mit ihnen über Erfolgserlebnisse. Und ich konnte den positiven Prozess in dieser Klasse verstärken, indem ich – neben laufbahnberaterischem Fachwissen – die drei Dimensionen des Veränderungskreises © eingebracht habe.“ Ich freue mich mit ihm und unbekannterweise mit der Lehrerin und den Schülern.

Ein anderer Laufbahnberater erzählt mir, er habe einen Sozialhilfeempfänger begleitet, der keine Ausbildung hatte und eine Lehrstelle finden wollte. Er war schon etwas älter. Er habe diesem Herrn gezeigt, wie er vorgehen könne. Der hätte keine Freudensprünge gemacht, den Effort aufzubringen für ein sorgfältiges Bewerbungsdossier. Verständlich: Er wurde dabei mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Der Laufbahnberater hatte ihn ermutigt und abgemacht, ihm vor dem nächsten Gespräch zu schicken, was er erarbeitet hatte, auch wenn das noch nicht perfekt sei. War nicht passiert. Er hatte kein gutes Gefühl. Doch der Klient kam in die Beratung und legte ein Bewerbungsdossier auf den Tisch, das den Berater tief beeindruckte – aus jeder Zeile ging hervor, dass er sich der Konfrontation gestellt und Wege gefunden hatte, authentisch, wahrheitsgetreu und motiviert zum Ausdruck zu bringen, warum er in seinem Alter noch eine Lehrstelle suchte. Er sagte zum Berater: „Ich habe Ihnen die Unterlagen nicht geschickt, weil ich noch nicht fertig war“…

Dass Professionals immer so natürlich die Menschen, mit denen sie es zu tun haben, empowern, ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint.

Das kommt z.B. in einem Seminar zum Ausdruck, das ich für Professionals aus dem Kontext Arbeitsintegration gegeben habe. Diese Professionals haben die ohne Zweifel sehr anspruchsvolle Aufgabe, Sozialversicherungsbezüger (Stellensuchende, Sozialhilfeempfänger, Migranten) einen Weg (zurück) in den Arbeitsmarkt finden zu lassen. Ich war selbst zehn Jahre in der Arbeitsintegration tätig und weiß, dass dies oft Knochenarbeit ist. In diesem Seminar habe ich es mit einer Gruppe von Professionals zu tun, die eine ganz andere Haltung zum Ausdruck bringen als die Lehrerin und die Laufbahnberatenden, von denen oben die Rede war. Sie klagen darüber, dass ihnen alle „schwierigen Fälle“ zugeschoben werden. Dass der Arbeitsmarkt solche Menschen nicht wolle. Und überhaupt: Eigentlich sollte der Staat diesen Menschen einfach ein Grundeinkommen geben.

Drei Beispiele. Zwei sehr unterschiedliche Haltungen. Die zu unterschiedlichen Resultaten führen. Die Lehrerin und der Laufbahnberater können sich mit den Schülern darüber freuen, dass alle eine Lehrstelle gefunden haben. Sie haben intensiv dafür gearbeitet. Sie können stolz sein. Ebenso Laufbahnberater und Klient, der es geschafft hat, sich an die Arbeit zu machen. Die Gruppe von Professionals in der Arbeitsintegration ist frustriert. Sie erzählen von Klienten, mit denen „nichts zu machen“ ist, die sich in der Sozialhilfe „eingerichtet“ und keine Motivation haben, daran etwas zu verändern.

Jetzt denken Sie vielleicht: Ja, aber das ist auch ganz schwierig. Ja. Gerade deshalb: Je schwieriger die Ausgangslage, desto entscheidender ist es, als Professional (aber auch als Privatperson, etwa als Vater oder Mutter eines Kindes mit schwierigen Voraussetzungen) eine Haltung einzunehmen, die positive Veränderung ermöglicht. Das heißt nicht, reale Schwierigkeiten auszublenden. Es heißt nicht, reale Probleme zu individualisieren im Sinne von „Bist selbst schuld, wenn Du keine Stelle findest.“ Es heißt, Schwierigkeiten zu sehen und auf dieser Basis Ressourcen, Möglichkeiten und Lösungen zu finden, kleine und kleinste Erfolgserlebnisse zu ermöglichen, die zu neuen, anderen Erfahrungen führen.

Mit unserer Haltung beeinflussen wir unsere Umgebung.

Wenn wir selbst genau hinschauen, den Blick auf (neue) Möglichkeiten und Perspektiven lenken, uns dafür einsetzen, dass ein positiver Prozess in Gang kommen kann, dann werden die Personen, mit denen wir es zu tun haben, dies spüren. Sie werden sich ernst genommen fühlen, ja, vielleicht auch (unangenehm) herausgefordert. Sie werden angeregt, Mut zu fassen, Ideen zu entwickeln, Schritte zu wagen.

Wenn wir selbst mit dem Fokus bei widrigen Umständen hängen bleiben, wenn wir selbst Schuld(ige) suchen, wenn wir selbst klagen, wenn wir uns mit einer Person in schwierigen Umständen „solidarisieren“ – wie soll dann unser Gegenüber Mut fassen? Wie soll dieser Mensch Energie aufbauen, aus einer schwierigen Situation hinauszufinden? Wie soll er oder sie den Willen aufbringen, das Mögliche zu wagen? „Solidarisierung“ mit Menschen in schwierigen Situationen hilft nicht, aufzubrechen, sondern verstärkt Verharren im Status Quo.

Wenn Sie jetzt kein Professional in Laufbahnberatung oder Arbeitsintegration sind, fragen Sie sich möglicherweise: Was hat das mit mir zu tun?

Vielleicht mehr als Sie denken.

Auch als Privatperson beeinflussen Sie mit Ihrer Haltung die Menschen in Ihrer Umgebung. Nein, Sie haben es nicht in der Hand, wie andere reagieren. Aber Sie können sie anregen, auf Wünschenswertes zu fokussieren.

Ja, nicht jeder wartet auf Empowerment. Es gibt Menschen, die haben sich daran gewöhnt, in Situationen zu verharren, zu leiden, sich zu beklagen. So erzählte mir etwa eine Pflegefachfrau in einer Seminarpause: „Wissen Sie, in unserem Team wird dauernd gejammert. Mich nervt das. Ich spreche das auch aus. Ich mache Änderungsvorschläge. Dann bekomme ich zu hören: ‚Du musst uns nicht sagen, was wir zu tun haben.‘“

Aber Sie können andere gewinnen. Nicht selten werden Sie bewirken, was in der oben erwähnten Schulklasse passiert ist: Ein „guter Geist“ ist ansteckend und nicht selten setzt das wie in dieser Schulklasse in allen Beteiligten Kräfte frei, die nicht nur für gute Stimmung sorgen, sondern auch zu positiven Resultaten führen.

Die Geschichten der Schulklasse und des Sozialhilfeempfängers auf Lehrstellensuche machen deutlich, wie viel bewirkt werden kann, wenn man selbst an Menschen glaubt – ohne naiv zu sein – und auf deren Stärken und Möglichkeiten fokussiert. Das lässt sich auch übertragen auf die Art, wie Sie Ihrer Schwiegermutter begegnen oder Ihrem Arbeitskollegen. Wenn Sie dann wie die Pflegefachfrau feststellen, dass diese Haltung eher zu stören als erwünscht zu sein scheint, können Sie noch immer neu schauen, wie Sie vorgehen wollen.

 

Der eigenen Haltung im Umgang mit Veränderung auf der Spur

Vielleicht wollen Sie innehalten und sich vergegenwärtigen: Wie begegne ich den Menschen, mit denen ich es zu tun habe? Wie wirkt sich aus?

  • Was ist meine Grundhaltung? Wie erfahre ich mich in der Interaktion mit andern? Wie gehe ich auf andere zu? Was ist mein Menschenbild? Welche Lebensauffassungen bringe ich in die Kontakte mit anderen ein? Was bewirkt dies?
  • Wie begegne ich den Menschen, mit denen ich es zu tun habe? Vielleicht wollen Sie in einer Art innerem Film Personen vorbeiziehen lassen, die in Ihrem Leben auf irgendeine Weise wichtig sind: Ihr Partner, Ihre Mutter, Ihr Arbeitskollege, Ihr Chef, die beste Freundin, der Nachbar. Welche Haltungen nehmen Sie diesen Menschen gegenüber ein? Bei welchen Personen fällt es Ihnen leicht, Positives zu sehen und einzubringen? Bei welchen gelingt es Ihnen nicht? Was ist der Unterschied?
  • Wo und wie bin ich für andere inspirierend und ermutigend wie die Lehrerin für ihre Schulklasse? Was ermöglicht dies? Wie kommt es zum Ausdruck? Was sind die Resultate?
  • Wo und wie geht es mir wie den Professionals im Seminar? Wo erfahren Sie in der Interaktion mit anderen, dass Sie wenig einbringen können oder wollen? Dass Energie verloren geht? Was spielt dabei eine Rolle?
  • Eigene Überzeugungen kritisch unter die Lupe nehmen. Stimmen Ihre Annahmen über die Menschen, mit denen Sie es zu tun haben? Ein Laufbahnberater hat sich in einem Seminar geäußert: „Unsere Klienten können keine motivierenden Horizonte entwickeln.“ Ich habe ihn gefragt, wie er darauf kommt. Das hatte er sich nicht überlegt. Oder: Stimmt es, dass Sie anderen etwas Gutes tun, wenn Sie in deren Klagen einstimmen? Verstehen Sie mich nicht falsch – ab und zu ist es wohltuend, gemeinsam zu schimpfen. Doch wenn das die Grundhaltung ist, wird man wenig Positives bewirken können.
  • Umgang mit „Verharrern“. Ja, es gibt immer Menschen, die sich so gewöhnt haben an unliebsame Situationen, dass ein „Aufbrechen“ je nach dem als Provokation, Bedrohung oder Zumutung wahrgenommen wird. „It takes two to tango“. Mit einer offenen, positiven Haltung haben Sie auch hier Regie – ohne andere ändern zu wollen. Sie brauchen niemanden zu missionieren. Sie können aber allenfalls benennen, was Sie erfahren: „Jetzt höre ich schon zum x-ten Mal, wie unmöglich Dein Mann ist. Ich sammle gerne mit Dir Ideen, wie Du hier am besten vorgehen kannst. Aber ich mag nicht zum x-ten Mal die gleiche Geschichte hören.“ Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, wie sie sich verhalten. Eine solche Bemerkung kann das ändern. Und wenn nicht, haben Sie die Wahl, ob und wie Sie den Kontakt fortsetzen.
  • Umgang mit realen Schwierigkeiten. Eine Haltung einzunehmen, die auf Ressourcen, Möglichkeiten und Lösungen ausgerichtet ist und andere empowert, ist nicht zu verwechseln mit Ausblenden von Realitäten. Wenn eine Person aus der Sozialhilfe zurück in den Arbeitsmarkt finden will, ist das kein Kinderspiel. Auch eine Krankheit verfliegt nicht, indem man einer Person offen, positiv und ermutigend begegnet. Es ist wichtig, dies zu verstehen. Krampfhaft positives Denken würde nur die reale Belastung dieser Menschen verstärken – sie würden sich nicht verstanden und noch mehr allein fühlen. Nein. Was aber möglich ist: Gemeinsam Ideen sammeln, was dieser Person helfen würde, diesen Schwierigkeiten auf eine Weise zu begegnen, die sie ermutigt, die die Erfahrung ermöglicht, dass man immer Einfluss nehmen kann durch die Art, wie man Situationen begegnet. Dadurch ist der Boden gelegt, die Aufmerksamkeit auf das zu richten, was hilft und motiviert und Schritte zu wagen, die zu kleinen und großen Erfolgserlebnissen führen. Ohne dass Schwieriges unter den Tisch gewischt wird.

Schön, wenn Sie realisieren, dass Ihre Haltung andere Menschen vitalisiert, inspiriert. Das gibt allen Beteiligten Energie. Und ich denke, die meisten von uns erfahren, dass wir in manchen Situationen und manchen Menschen gegenüber Mühe haben, eine solche Haltung einzunehmen. Es geht nicht darum, etwas vorzuspielen. Aber es ist nützlich, zu realisieren, was abläuft.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • Der Laufbahnberater sagte: „Diese Lehrerin lebt Dein Konzept.“ Viele Menschen tun dies intuitiv. Indem sie sich dessen bewusst werden, sind sie in der Lage, es bei Bedarf bewusst einzusetzen. Mehr zum Veränderungskreis © in meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“.

 

 


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