„Es ist zu viel“

Grüezi – Guten Tag!

Gut möglich, dass Ihnen das vertraut ist: Das Gefühl „Es ist zu viel“. In dieser Newsletter-Ausgabe ein paar Beobachtungen und Anregungen zu einem weitverbreiteten Phänomen.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

 

Inhalte

 

„Es ist zu viel“ – zwei Beobachtungen

In meiner Seminar- und Beratungstätigkeit sowie auch privat beobachte ich gegenwärtig zwei Phänomene.

Einerseits beobachte ich eine Zunahme von Menschen, die eigentlich nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben zu gestalten und auch Schwieriges zu meistern. Das äussert sich beispielsweise so:

  • Der Inhaber eines KMU’s (kleine und mittlere Unternehmen), das er mit seinen Mitarbeitenden, Vision und viel Herzblut zu einem blühenden Betrieb mit 40 Angestellten gebracht hat, ist seit längerem daran, seine Nachfolge zu regeln. Es zeichnet sich ab, dass die dafür vorgesehenen Personen nicht in der Lage sind, die Führung des Betriebs zu übernehmen. Sie sind rasch überfordert, finden, zu viel zu arbeiten, scheuen Verantwortung. Es kommt stets mehr zu Problemen bei Projekten. Der Inhaber des KMU’s arbeitet rund um die Uhr. Am Ende bekommt er lebensbedrohende Gesundheitsprobleme.
  • Laufbahnberatungsprofessionals in meinen Seminaren erzählen wiederholt von Kunden, die unzufrieden sind mit dem beruflichen Status Quo bzw. ihren Traumjob finden wollen – wenn aber Engagement gefragt ist, sind sie nicht mehr interessiert.
  • Führungspersonen erzählen von Mitarbeitenden, die rasch den Bettel hinschmeissen, wenn es eine Durststrecke gibt oder die krank werden, wenn sie mit einer kniffligen Situation konfrontiert werden.

Andererseits beobachte ich, dass stets mehr auch stabile, ruhige, engagierte Menschen an ihre Grenzen kommen oder sogar darüber hinaus. Wie der erwähnte Inhaber des KMU’s.

  • Da ist der Abteilungsleiter einer Organisation. Auch er ist mit Herzblut bei der Arbeit. Eine neue Chefin kommt. Sie will viel Bewährtes umkrempeln, alles muss anders. Innert kürzester Zeit gibt es Kündigungen und Krankheitsabsenzen. Was wiederum die Arbeitsbelastung des Abteilungsleiters verstärkt. Eine Spirale.
  • Da ist der Laufbahnberatungsprofessional, der von einem Kunden erzählt, der sehr engagiert in seinem Beruf gearbeitet hat, jetzt aber mit einer Liste von alternativen Berufen in die Beratung kommt – er müsse weg, er halte das nicht mehr aus, er könne sich nicht mehr vorstellen, weiter so zu arbeiten. Es sei einfach alles zu viel.
  • Oder eine Laufbahnberaterin: „Wir haben immer mehr Projekte, auch ausserhalb der Beratungsarbeit. An sich ist das spannend. Aber wenn ich nach einem Beratungstag am Abend noch einen Elternabend gebe, dann merke ich, dass ich schlicht zu wenig Zeit habe, meine Ressourcen wieder aufzubauen. Am nächsten Tag geht es weiter.“
  • Nach einem Seminar plaudere ich mit einem Teilnehmer noch etwas nach. Er führt ein Team von Professionals. Er äussert sich spontan: „Ich hatte heute ein Aha-Erlebnis! Ich hatte kürzlich das Mitarbeitergespräch mit meinem Vorgesetzten. Wir waren uns einig, dass meine Performance dieses Jahr nicht ganz so gut war wie gewohnt. Der Vorgesetzte reagierte an sich wohlwollend; er bot mir ein Coaching an, im Raum stand die Frage, ob ich als Führungskraft der Sache genügend gewachsen bin. Intuitiv wusste ich, dass das nicht der Grund ist. Im Seminar realisierte ich: Ich brauche kein Coaching. Es ist schlichtweg zu viel.“

Stets neue Vorgaben, Prozesse, Software, zunehmende Bürokratie, die enorme Flut an Informationen, mit der wir täglich konfrontiert sind und last but sicher not least die zunehmende Destabilisierung in Gesellschaft und Politik, der wir beruflich wie auch privat ausgesetzt sind, können zusätzliche Belastung sein – praktisch, zeitlich und mental. Kommt hinzu, dass viele auch privat gefordert sind: Patchworkfamilie, Betreuung bejahrter Eltern, finanzielle Engpässe, Spannungen im sozialen Umfeld, kein tragfähiges soziales Netzwerk, zu wenig Energiequellen.

Kurz: Irgendwann wird es den stärksten Menschen zu viel.

Wie können wir gut mit dem Vielen umgehen? Wie können wir Regie behalten und weiterhin das Leben gestalten? Wie bleiben wir gesund?

 

Mitten im Vielen Regie übernehmen: Wie gelingt das? Anregungen

Der Seminarteilnehmer, der von seinem Aha-Erlebnis erzählte, gibt eine Idee: Beschwingt sagte er: „Ich gehe nochmals zu meinem Vorgesetzten und will besprechbar machen, was wirklich los ist.“ Ich ermuntere ihn, wie wichtig es ist, dass es Personen gibt, die in der Lage sind, zu erkennen, wenn es wirklich einfach zu viel „Heu auf der Gabel“ gibt und den Mut haben, sich dafür einzusetzen, dass das produktiv besprechbar gemacht, Ruhe kreiert wird und praktische Lösungen gefunden werden – statt zu warten, bis es aus dem Ruder läuft und nicht nur die Gesundheit von Mitarbeitenden, sondern auch die Qualität deren Arbeit und damit die Gesundheit der Organisation unter Druck kommen. Ich denke, eine der wichtigsten Führungskompetenzen gegenwärtig ist es, Ruhe zu kreieren. Ein Umfeld zu schaffen, in dem Mitarbeitende ihre Arbeit gut machen können. Das braucht Mut und Klarheit – vielerorts gibt es Aktivismus, wird Druck gemacht und stets Neues angerissen. Was als vermeintliches Engagement daherkommt ist letztlich Führungsschwäche. Das gilt auch für den privaten Bereich, etwa für Eltern, die ihren eigenen Druck auf ihre Kinder übertragen oder Personen, die in ihrem Umfeld Stress verbreiten. Das kostbarste Gut: Ruhe. Wie gelingt es, Ruhe zu kreieren? Die wichtigsten Elemente:

  • „Es ist zu viel“ besprechbar machen. Ich meine damit nicht, über Umstände, die aktivistische Chefin, die Hektik zu schimpfen. Obwohl das natürlich verständlich ist und bis zu einem gewissen Grad auch wohltut. Doch auf Dauer führt dies nur zu mehr desselben schlechten Gefühls und frisst zusätzlich Energie. Ich meine damit: Den Mut haben, sachlich zu benennen, was genau zu viel ist. Oft wird dies verhindert durch Gruppendynamik oder die unhinterfragte Annahme, dass man heutzutage nur durchs Leben kommt, wenn man atemlos mithält. In meinen Seminaren wird das „zu viel“ zunehmend thematisiert. Und ich erfahre, dass der sachliche Austausch darüber schon sehr entlastend und wohltuend ist. Die Seminarteilnehmenden erfahren, dass es vielen zu viel wird – nicht, weil es ewige Jammerer sind, sondern einfach, weil es faktisch zu viel ist, was sie zu bewältigen haben.
  • Genau hinschauen: Was genau ist „zu viel“? Denen, die meinen Ansatz kennen, ist die Wichtigkeit, genau hinzuschauen, vertraut. Die Basis, um etwas verändern zu können, ist es, Klarheit zur Ausgangslage und Überblick zu schaffen. Statt sich Gefühlen hinzugeben wie „Es ist zu viel“, „Ich kann hier doch nichts ändern“, „Ich verliere alle Motivation“, „Die heutige Zeit ist unmenschlich“ usw. ist es essenziell, wie ein Detektiv hinzuschauen: Was genau ist hier los? Was genau ist zu viel? Was sind die wichtigsten Energiefresser? Wie ist es dazu gekommen? Nehmen Sie sich etwas Zeit für eine Auslegeordnung: Nehmen Sie einen Bereich um den anderen unter die Lupe. Was genau ist es, was zum Gefühl „zu viel“ führt? Wo genau liegt der Hase im Pfeffer? Das können Sie für sich allein machen, als Führungskraft z.B. in einer Teamsitzung die Mitarbeitenden dazu anregen oder als Familie zusammen Fakten sammeln, was das „zu viel“ ist.
  • Motivierender Horizont. Wechseln Sie die Perspektive: Wie sieht eine Situation aus, in der Sie am Morgen wieder gerne aufstehen? Was beinhaltet diese Situation konkret? Was werden Sie in dieser Situation tun, was werden Sie denken, wie werden Sie sich fühlen? Welche Schlüsse können Sie daraus ziehen auf den Umgang mit der aktuellen Situation? Welche Schritte, die Sie hier und jetzt machen können, leiten sich daraus ab?
  • „Aussortieren“, Prioritäten setzen. Es ist ein Trugschluss, unendlich immer mehr bewältigen zu können. Also geht es darum: Was sind die wichtigen Bereiche, die nicht weggelassen werden können? Und: Was können wir reduzieren, weglassen, anders angehen, vielleicht auf mehr Zeit verteilen?
  • Mut zum „reduce to the max” (auf das Maximum reduzieren). Es erfordert Mut, als Teamleiter gegenüber dem Vorgesetzten aufzuzeigen, wie und wo es für die Mitarbeitenden zu viel wird, welche Ziele sich nicht realistisch so und in der angepeilten Zeit erreichen lassen. Es erfordert Mut, dazu zu stehen, dass es wichtig ist, nicht nur stets Neues anzupacken, sondern auch für Stabilität zu sorgen, dafür, dass Mitarbeitende gut arbeiten können, zu intervenieren, wenn es Spannungen gibt und Ruhe zu kreieren. Das ist nicht Schwäche oder mangelnde Dynamik. Es ist die Essenz guter Führung. Warum? Sie sorgen dafür, dass die Menschen, mit denen Sie zu tun haben, gesund und motiviert bleiben. Das gleiche gilt natürlich auch für die „Führung“ von Kindern oder für die „Führung“ von sich selbst: Es fordert auch Mut, selbst dazu zu stehen, wenn man merkt, dass Grenzen erreicht oder überschritten werden.
  • Regie übernehmen, Schritte umsetzen. So können etwa Mitarbeitende benennen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Sie können vorschlagen, gemeinsam Lösungen zu finden, wie sie Dinge noch anders angehen können. Sie können auch aufzeigen, was die Konsequenzen sind, wenn der Druck zu gross ist. So hat etwa der erwähnte Abteilungsleiter einer Organisation seiner Vorgesetzen gegenüber klar kommuniziert, dass er nicht doppelte Arbeit (für seine krankheitsbedingt ausgefallene Kollegin) machen und zugleich sein eigenes Pensum mit der gleichen Sorgfalt und Qualität erfüllen kann. Als Privatperson könnten Schritte etwa beinhalten, bewusst und strukturell für Ruhe zu sorgen, etwa durch sehr bewusste Gestaltung der Freizeit, Abbau von Dingen und Beziehungen, die keine Energie geben, Erkennen von „Alarmlämpchen“, Ideen und „mental rehearsal“ wie Sie in schwierigen Momenten anders vorgehen können als in Stressspiralen abzudriften. Vielleicht wollen Sie spielerisch das Prinzip „Erst das Vergnügen, dann die Arbeit“ in Ihren Alltag integrieren.

Mit solchen Schritten wechseln Sie vom Stress- in den (Re)Creation-Modus. Sie werden erstaunt sein, dass Sie in diesem Modus sehr viel bewältigen können – ohne sich zu erschöpfen. Ich wünsche Ihnen von Herzen den Mut, bei „zu viel“ innezuhalten, genau hinzuschauen, zu erkennen, was Sie verändern können, Ideen, wie Sie in Ihrer Situation „reduce to the max“ praktizieren und Luft schaffen können. Und natürlich, dass Sie Energie aus der Erfahrung bekommen, dass Sie auch in diesen hektischen, bewegten, instabilen Zeiten mit „innerem Ankerpunkt“ vieles bewältigen können – ohne auszulaugen.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • In meinem Buch „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen. Wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“ finden Sie in Kapitel 1 „‘Wo fange ich hier nur an?!‘ – Bei (zu) vielen ‚Baustellen‘ einen guten Anfang finden“ praktische Anregungen, wie Sie bei „zu viel“ vorgehen können, wann dies angesagt ist, Hintergrund und Ansatzpunkt zur Veränderung, Gründe, warum es oft schwerfällt, bei „zu viel“ einen guten Anfang zu finden und Anregungen zu zwei entscheidenden Erfolgsfaktoren. Das Buch ist vergriffen, aber in Bibliotheken erhältlich. Bei Interesse können Sie mich auch kontaktieren, ich habe noch einige Exemplare.
  • Weil die Thematik so wichtig bzw. verbreitet ist, habe ich sie auch in meinem Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“ noch etwas anders aufgenommen; hier geht es primär darum, wie man andere befähigen kann, bei „zu vielem“ einen Weg zu finden. In Kapitel 11.2 mit gleichnamigem Titel „‘Wo fange ich hier nur an?!‘ Bei (zu) vielen ‚Baustellen‘ einen guten Anfang finden“ finden Sie theoretische Erläuterungen, Interventionsansätze und praktische Anregungen, wie Sie andere (aber auch sich selbst) befähigen können, aus der Spirale von „zu viel“ auszusteigen.

 


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