Freiheit wertschätzen und pflegen

Grüezi – Guten Tag!

Gerade jetzt scheint es mir wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was es mit Freiheit auf sich hat – und warum Freiheit positive Veränderung ermöglicht. Ich setze dabei bei innerer Freiheit an: Der Freiheit, eigenständig zu denken, zu fühlen und zu handeln. Innere Freiheit ermöglicht äußere Freiheit, die Freiheit, unser Leben zu gestalten. Freiheit ist nicht etwas für „bessere Zeiten“. „Bessere Zeiten“ entstehen, wo wir Freiheit wertschätzen und pflegen. Mit diesem Newsletter möchte ich Sie ermutigen, genau dies zu tun – gerade jetzt, wo es selbstverständlich zu werden scheint, Freiheit abzugeben.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

Der Einkaufswagen

Zurzeit ist man hier in Supermärkten verpflichtet, einen Einkaufswagen vor sich hinzuschieben, um „social distancing“ einzuhalten. Bei einem meiner Einkäufe im Quartiersupermarkt lasse ich meinen Wagen kurz stehen, um ein paar Regale weiter eine Packung Milch zu holen. Da kommt einer der Mitarbeitenden, der mich sonst immer freundlich grüßt, mit strengem Blick auf mich zu: „Sie müssen einen Wagen nehmen.“ Ich antworte, dass ich einen Wagen habe, jetzt aber kurz eine Packung Milch holen will. Es gibt weit und breit keine andere Person. Er insistiert. Ich schaue in sein Gesicht. Er scheint wie verwandelt, beinahe in Panik. Im Hintergrund ertönt eine freundliche Stimme aus einem Lautsprecher, die Kunden ein Kompliment macht, die die Regeln einhalten.

Szenenwechsel. Bei einem Spaziergang kommt meinem Mann und mir ein Herr entgegen. Er macht einen weiten Bogen um uns. Mein Mann bemerkt wohlgemeint, dass das Virus Feuchtigkeit – es nieselt gerade – nicht mag. Der Mann reagiert vehement, fast aggressiv: „Ich mache, was alle machen!“ Ob er wohl realisiert, was er sagt?

Eine dritte Situation. Ebenfalls beim Spaziergang. Ein Kind kommt fröhlich auf uns zu. Die Mutter: „Geh nicht so nahe an diese Menschen.“ Oder: Wir treffen einen netten Nachbarn mit dessen Sohn beim Glascontainer. Der Sohn möchte uns auf dem Smartphone ein Foto zeigen. Der Vater streng: „Nicht so nahe. Du kennst die Regeln.“

Obwohl viele Menschen so ruhig, pragmatisch und kreativ wie möglich das Beste aus der Situation machen, dabei auch Regeln einhalten und zugleich kritisch bleiben, bringen diese Begegnungen zum Ausdruck, was gegenwärtig spürbar ist: Nervosität. Angst. Unverhältnismäßigkeit. Rigidität. Auf der einen Seite zunehmende Bereitschaft, Freiheit aufzugeben, ja sogar der Wunsch nach mehr Regeln und Kontrolle. Auf der anderen Seite zunehmende Aggression gegen all die Regeln, Einschränkungen und Wut über den Schaden, der damit einhergeht – sei es, dass Menschen unter Isolation leiden, sei es, dass ihre wirtschaftliche Existenz bedroht ist.

 

Warum es wichtig ist, Freiheit wertzuschätzen und zu pflegen

Können Probleme gelöst werden, wenn Regeln rigide befolgt werden? Fördert es Gesundheit, wenn fast panisch reagiert wird, wenn einer zu nahe kommt? Kann Sicherheit entstehen, wenn geglaubt, akzeptiert und übernommen wird, was uns gesagt wird? Muss Freiheit geopfert werden, um eine Krise zu bewältigen? Kann eine Krise so bewältigt werden?

Was sind Ihre spontanen Antworten?

Wie Sie von meinen letzten Newsletter-Ausgaben wissen, halte ich es gerade im aktuellen Kontext für essenziell, Stresskreisläufe zu (er)kennen und zu unterbrechen. Ich verstehe Stress neurobiologisch als Reaktion von Gehirn und Körper auf als Bedrohung oder Problem wahrgenommene Umstände.

Es gehört zu Stresskreisläufen, dass die Aufmerksamkeit auf Umständen liegt und sich der Fokus verengt. Bei akuter, überschaubarer, kurzfristiger Gefahr ist es nützlich, auf die Gefahr zu fokussieren und alles andere auszublenden: So können wir am ehesten rasch tun, was uns aus der Gefahrenzone bringt. In Situationen wie der gegenwärtigen kann dies zum Problem werden. Gerade jetzt sind Überblick, Weitblick, kritisches Denken und das Gefühl für Verhältnismäßigkeit wichtig. Sonst führen Fokussierung und pragmatische Regeln nicht zu Lösungen, sondern zu Rigidität. Damit wird Stress nicht abgebaut, sondern gefördert. Und: Freiheit gerät unter Druck. Innere und äußere Freiheit.

Freiheit ermöglicht Entspannung. Jedenfalls, wenn wir bereit sind, die mit Freiheit einhergehende Verantwortung für unser Denken, Fühlen und Handeln zu übernehmen.

Entspannung ist der Gegenpol zu Stress. Gehirn und Körper stellen auf Regeneration um. Zugleich können wir im Entspannungsmodus offen sein, haben Zugang zu unserer Intuition und Kreativität. Wir kommen auf Ideen und Lösungen und sind so in der Lage, auch in schwierigen Situationen aus Übersicht, entschlossen und zugleich flexibel und situationsgerecht vorzugehen. Genau dies ist gerade jetzt so wichtig.

Freiheit, wie ich sie verstehe, bedeutet nicht, auf Regeln zu pfeifen, reale Probleme nicht wahrhaben zu wollen oder einem Egotrip zu verfallen à la „Hauptsache, ich kann machen, was ich will“. Freiheit, wie ich sie verstehe, bedeutet, Regie über das eigene Denken, Fühlen und Verhalten zu behalten. Damit pflegen wir innere Freiheit. Und tragen dazu bei, dass äußere Freiheit nicht unnötig geopfert wird. Wenn wir in Stress blind Regeln folgen oder sogar noch mehr Regeln fordern, geben wir nicht nur Freiheit ab. Wir geben auch Macht ab. Wir machen uns abhängig von dem, was andere für uns gut finden. Wenn wir Freiheit wertschätzen und bei der Stärkung innerer Freiheit ansetzen, sind wir nicht nur in der Lage, bei uns selbst Stresszyklen zu erkennen und zu unterbrechen. Wir sind auch in der Lage, selbst Orientierung und Balance zu finden im Umgang mit allem, womit wir jetzt konfrontiert sind: Regeln, Meinungen, Spannungen, Ängsten, der Schwierigkeit, noch irgendetwas planen zu können, Verhaltensweisen anderer. Und wir tragen dazu bei, dass wir nicht kollektiv auf „Autopilot“ gehen und uns einmal die Augen reiben werden, weil wir das kostbare Gut Freiheit aufgegeben haben und es statt zu guten Lösungen zu „mehr desselben“ gekommen ist. Innere Freiheit ermöglicht äußere Freiheit. Innere Rigidität ermöglicht äußere Rigidität.

 

Wie kann Freiheit gepflegt werden?

Freiheit wird gepflegt, indem wir mental wach, offen und flexibel bleiben.

Dies beginnt damit, sich überhaupt mit dem Thema auseinanderzusetzen, etwa:

  • Eigenes Verständnis von Freiheit klären. Wenn Sie einer anderen Person erzählen wollten, was Sie unter Freiheit verstehen: Was würden Sie sagen?
  • Erfahrungen mit Freiheit erkunden. Wann fühlen Sie sich frei? Was fördert bzw. beeinträchtigt Ihr Gefühl von Freiheit? Was denken, fühlen und tun Sie, wenn Sie sich frei fühlen und Ihr Leben frei gestalten können? Was daran gefällt Ihnen? Was daran finden Sie allenfalls auch schwierig?
  • Stellenwert von Freiheit? Wenn Sie sich Ihre wichtigsten Überzeugungen, Ihr Lebensmotto oder Aussagen vergegenwärtigen, die Sie häufig machen: Spielt Freiheit dabei eine Rolle? Wo und wie? Wie wirkt sich dies auf Ihre Entscheidungen und Ihre Lebenssituation aus? Wie wirkt es sich auf den Umgang mit der aktuellen Situation aus?
  • Auswirkung der aktuellen Situation auf Ihr Denken, Fühlen und Verhalten. Wie reagieren Sie auf die aktuellen Veränderungen, Regeln und Freiheitseinschränkungen? Was hilft Ihnen, Distanz zu nehmen, Überblick zu gewinnen, Energie aufzutanken, den Mut nicht zu verlieren, innerlich frei zu bleiben? Wo laufen Sie allenfalls fest – etwa in Verwirrung, Angst, Ärger, Ohnmacht – und was hilft Ihnen dann, nicht abzudriften?
  • Realisieren, dass Freiheit mit Verantwortung einhergeht, soll sie nicht in rücksichtslosen Egoismus oder Beliebigkeit entarten. Freiheit ist anspruchsvoll: Wir müssen uns orientieren, Möglichkeiten sehen, abwägen, wählen, entscheiden, Stellung beziehen, Risiken eingehen. Vielleicht sind daher viele mit Freiheit überfordert, wissen etwa nicht, welchen Beruf sie erlernen sollen. Oder verharren im Vertrauten. Oder fordern gerade jetzt noch mehr Regeln und Kontrolle. Freiheit ist herausfordernd. Man muss etwas damit machen. Nicht alle mögen das. Wie sehen Sie dies?

Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen aktiviert den Frontallappen im Neokortex, jenen Gehirnbereich, der u.a. zuständig ist für Beobachten, bewusstes Wahrnehmen, Erkennen. Zugleich wird der „Autopilot“ gewohnter, oft unhinterfragter und unbewusst gewordener Denk- und Verhaltensmuster gestoppt. Durch Beobachten und Reflexion schaffen wir die Basis, Regie übernehmen zu können: Was ist hilfreich und was nicht? Wie können wir Situationen noch anders begegnen? Welches Denken, Fühlen und Verhalten helfen uns, durch diese Zeit zu navigieren? Solche Fragen aktivieren positive Gefühle sowie Intuition und Kreativität. Statt uns als Opfer von Umständen zu fühlen, können wir erkennen, wie wir produktiv mit diesen Umständen umgehen können. Damit gewinnen wir innere Freiheit und stärken unsere Selbstwirksamkeit, das Gefühl, mitbestimmen zu können, wie wir Umständen begegnen.

Wie können wir im Umgang mit gegenwärtigen Umständen Freiheit pflegen?

  • Eigenständig denken. Im Moment werden wir von unzähligen Meinungen überflutet. Das kann verwirrend, beängstigend sein, verunsichern oder Unmut auslösen. Ich sehe es wie einen Sport, sich immer wieder zu fragen: Was ist mein Zugang zu dieser Thematik? Wenn ich in einem Satz sagen müsste, wo ich stehe und wie ich darauf komme: Wie würde dieser Satz lauten? Ermöglicht dieser Satz Freiheit? Ist er klar und gibt er zugleich Raum für andere Standpunkte?
  • Kritisch bleiben. Eine Freundin in der Schweiz schreibt mir: „Ich bin ziemlich entsetzt über die unkritische Haltung vieler Menschen gegenüber den Maßnahmen der Regierungen. Es gibt praktisch nur noch eine Meinung weltweit und viel Angst wird geschürt, das scheint mir sehr bedenklich.“ Freiheit wird gepflegt, wenn wir uns selbst immer wieder fragen: Wie komme ich auf die Meinungen, die ich vertrete? Wer und was beeinflusst mich dabei? Stimmt es eigentlich, was ich denke? Und: Stimmen die Theorien, die uns vermittelt werden? Was spricht dafür, was dagegen? Wie kommt es eigentlich, dass in den Medien bestimmte Theorien breit und positiv vermittelt werden, während anders ausgerichtete Theorien gerade jetzt rasch als „Verschwörungstheorien“ diskreditiert werden? Nicht immer sind die Theorien, auf die sich die Mehrheit bezieht, adäquat. Galileo Galilei und Albert Einstein erinnern daran. Ich will Ihnen damit nicht nahelegen, in akademische Studien und Diskussionen abzutauchen. Wahrscheinlich haben Sie anderes zu tun. Ich will Sie vielmehr ermutigen, nicht alles zu glauben, was als „wissenschaftlich erwiesen“ vermittelt wird. Seien Sie selbst Wissenschaftler: Bleiben Sie neugierig, beobachten Sie, lesen oder hören Sie auch mal Ansätze, die nicht dem „Mainstream“ entsprechen. Denken Sie selbst. Damit pflegen Sie Freiheit. Sie verfallen nicht dem häufigen „Ach, niemand weiß doch, was wirklich stimmt.“
  • Nutzen und Schaden abwägen. Durch die Fokussierung auf Corona können viele andere Krankheiten weniger gut oder gar nicht behandelt werden. Der wirtschaftliche Schaden wird enorm sein und zusätzlich für Stress sorgen. Freiheit wird gepflegt, wenn man die Frage, was eine gute Balance ist, nicht einfach „Experten“ überlässt, sondern für sich selbst Antworten bzw. offene und flexible Standpunkte findet.
  • Situationsgerecht vorgehen. Es ist sicher nicht verkehrt, Regeln einzuhalten. Aber manchmal ist es angemessen, sich Freiräume zu nehmen. Dies erfordert Wachheit, Flexibilität – und den Mut, frei zu bleiben.
  • Mental Distanz nehmen. Ja, immer wieder. Viele machen das ganz natürlich. Sie reduzieren den Medienkonsum, pflegen Wohltuendes, freuen sich an den kleinen und großen Freiräumen, die diese Zeit auch bietet. Sie nehmen sich die Freiheit dazu.

Schließlich wird Freiheit gepflegt durch den Blick über die aktuelle Situation hinaus:

  • Freiheit wertschätzen. Vielleicht ist es gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Freiheiten, die für uns selbstverständlich geworden sind, über viele Jahrhunderte erkämpft werden mussten. Es gab Zeiten, da konnte man nicht wählen, welchen Beruf man erlernt, wo und wie man lebt, mit wem man Beziehungen eingeht. Es gab Zeiten, da konnte man nicht frei reisen oder Politiker wählen. Es ist schade, erst zu realisieren, was man hatte, wenn es verloren ist.
  • Sich vergegenwärtigen, dass Systeme, in denen Freiheit sukzessive eingeschränkt wurde, früher oder später zu totalitären Regimes geführt haben. Und dass Systeme, die für Freiheit und Unabhängigkeit eingestanden sind, Entwicklung und Wohlstand für viele ermöglicht haben und damit gerade die Freiheiten und Möglichkeiten, die wir so lange genießen durften. Das lässt sich auf komplexe Systeme wie Nationen übertragen, aber auch auf kleine Systeme wie ein Unternehmen oder eine Familie.
  • Zurückschauen. Es gibt ein Zitat „Aus der Geschichte lernen wir, dass wir nichts aus ihr lernen“ (u.a. nach dem deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831). Vielleicht können wir doch lernen. Was ist passiert, wenn in Krisenzeiten Freiheit aufgegeben wurde? Was ist passiert, wenn Freiheit hochgehalten und verteidigt wurde? Was fällt Ihnen spontan ein? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
  • Vorausschauen. Ich denke an die bekannte Geschichte von Nelson Mandela. Der wegen seinem Einsatz für Freiheit ins Gefängnis kam, dort erst mit negativen Mustern kämpfte, bevor er sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen begann: „Was wäre, wenn ich hier rauskomme? Wie würde ein Land in Freiheit aussehen? Wie wäre ein solches Land organisiert? Was könnte ich beitragen?“ Freiheit beginnt im Kopf. Oder, anders gesagt: Freiheit beginnt damit, dass man sich damit beschäftigt. Und ja, in der Folge übt, Denken, Fühlen und Verhalten konsequent darauf auszurichten. Auch wenn man kein Mandela ist. Jeder, der dies tut, ist ein Gewinn.

Indem Sie Freiheit wertschätzen und pflegen, ermöglichen Sie nicht nur sich selbst, dass Sie produktiv mit der aktuellen Situation umgehen können. Sie tragen auch dazu bei, dass äußere Freiheitsbeschränkung eine vorübergehende Angelegenheit bleibt. Von Herzen wünsche ich Ihnen innere und äußere Freiheit. Und den Mut, beides zu pflegen.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • Freiheit wertschätzen und pflegen ist auch eine wichtige Voraussetzung, um jegliche Art von Veränderung selbstbestimmt, motiviert und erfolgreich anzugehen. Schließlich müssen Sie sich zugestehen, Regie zu übernehmen, d.h. sich die Freiheit zu nehmen, auf eine Weise vorzugehen, hinter der Sie stehen, die Ihnen entspricht und die Sie erfahren lässt, Ihr Leben mitgestalten zu können. Mehr zu einem eigenständigen Umgang mit Veränderung in meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“.

 


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