Langeweile, Überdruss, „goldene Fesseln“, Boreout?

Grüezi – Guten Tag!

Etiketten ändern, Phänomene bleiben. In diesem Newsletter geht es um Situationen, in denen Menschen sich unterfordert fühlen, langweilen, in Routine festlaufen, aufbrechen wollen, sich gefangen fühlen, unzufrieden werden, in Stress geraten. Beruflich. Vielleicht auch privat. Dazu einige Gedanken aus Perspektive des Veränderungskreises ©.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

Langeweile, Überdruss, „goldene Fesseln“, Boreout?

Ich bin beschwingt von den ersten Durchführungen meines neuen Seminarangebots für Professionals, die Menschen in ganz unterschiedlichen Veränderungssituationen begleiten. Der Titel lautet: „Wenn Denk- und Verhaltensmuster die Beratung beeinträchtigen.“ Der Titel ist nicht sexy. Das Interesse am Thema groß. Die Feedbacks zeigen: Das Thema ist sehr relevant.

Professionals können fachlich noch so kompetent sein – it takes two to tango. Immer ist es erforderlich, dass sich Menschen auf Prozesse einlassen. Dass sie Haltungen und Verhaltensweisen entwickeln, die sie erfahren lassen, ihr Leben gestalten zu können. Viele Menschen bleiben hängen in mentalen Spiralen oder greifen auf Verhaltensweisen zurück, die sie festlaufen lassen. Dann ist es die Kunst, sie gewinnen zu können, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, hinzuschauen, motivierende Perspektiven zu entwickeln, selbstverantwortlich zu entscheiden, mutig zu handeln und gerade so Vertrauen aufzubauen: Vertrauen, dass auch sie den Gang der Dinge beeinflussen können.

Was hat dies mit dem Thema dieses Newsletters zu tun?

Es ist mir immer wichtig, Bezüge zur Praxis herzustellen, es interessiert mich, was die Seminarteilnehmenden beschäftigt. Das gibt zugleich einen spannenden Einblick in gesellschaftliche Themen, aktuelle Trends, den Zeitgeist. Dabei verändern sich Themenschwerpunkte.

So ist es mir in diesen Herbstseminaren, insbesondere denen, die ich für Berufs-, Studien- und Laufbahnberatungsprofessionals gab, aufgefallen, dass diese es offenbar vermehrt mit Kunden zu tun haben, die unzufrieden sind mit ihrem Job. Nein, nicht, weil sie sich überfordert fühlen. Im Gegenteil: Sie fühlen sich unterfordert, langweilen sich, laufen fest in Routine.

So erzählt eine Laufbahnberaterin in einem dieser Seminare von einem Arzt, der sie für eine Beratung konsultiert hatte: Er ist sehr unzufrieden mit seiner Arbeitssituation. Er klagt über Mangel an Innovation, über Routine, Bürokratie, schlechte Führung, Leerlauf, fehlende Wertschätzung. Er fühlt sich unterfordert und zugleich gestresst. Er wünscht sich Veränderung – nur: er hat keine Idee, was eine gute neue Situation sein könnte. Vorschläge der Laufbahnberaterin lehnt er ab. Die aktuelle Situation beinhaltet eben auch Annehmlichkeiten wie Status und Einkommen. Er spricht von „goldenen Fesseln“.

In einem anderen Seminar, ebenfalls für Laufbahnberatende, eine ähnliche Situation. Eine Laufbahnberaterin erzählt von einem Kunden: Jung, akademisch ausgebildet, dynamisch, in gutem und gut bezahltem Job in der IT-Branche. Nur: Auch er langweilt sich. Auch er klagt über Routine, ist unzufrieden, hat Freude und Interesse an seiner Arbeit verloren. Auch er kommt zunehmend unter Druck: Einerseits durch das Leiden an der unbefriedigenden Situation. Andererseits durch ein wachsendes Entscheidungsdilemma. Ich frage die Laufbahnberaterin, wie sie vorgegangen sei. Sie spricht von „Granit“: Auch dieser Kunde hatte bei jedem ihrer Vorschläge einen Grund, warum das in seiner Situation keine Option sei. Sie hätten die Beratung beendet. Doch jetzt habe er sie wieder kontaktiert für einen neuen Termin. Er habe inzwischen die Stelle gekündet. Ins Blaue. Ja, er habe eine neue Stelle gefunden. Nur: Er sei wieder am gleichen Punkt.

Eine dritte Situation: Eine Laufbahnberaterin erzählt mir in einer Seminarpause, dass sie in Orientierung am Veränderungskreis © mit einem Kunden in ähnlicher Situation „genau hingeschaut“ habe. Einfach in Ruhe hinschauen. Was ist hier los? Klarheit gewinnen. Nicht werten, interpretieren. Fakten sammeln. Es hätte sich gezeigt, dass er Status, Einkommen, Sicherheit seiner Stelle nicht aufgeben wollte. Er hätte sich fast geschämt, dies „zuzugeben“. Persönlichkeitstests hätten bestätigt, dass er statusorientiert sei. Statt dies abzuwerten, hätten sie erneut genau hingeschaut: Was sind die Konsequenzen? Er realisierte, dass er mögliche Risiken und Verluste eines Neuanfangs nicht in Kauf nehmen wollte. Diese Erkenntnis erleichterte ihn. Er hatte mehr Klarheit. Zugleich hatte sich die Arbeitssituation dadurch natürlich noch nicht verändert. Die Beraterin explorierte mit ihm, wie er diese Situation mehr gestalten kann statt sich in Unzufriedenheit zu verstricken. Er kam in Kontakt mit sich selbst und auf Ideen. Er entschied sich, im Job zu bleiben. Eine bewusste Entscheidung. Er gab sich einen Zeitraum, um zu experimentieren, seinen Arbeitsalltag befriedigender zu gestalten bzw. zu üben, eine Haltung einzunehmen, die ihm dies ermöglichte.

Vielleicht schließen diese Beispiele an bei Erfahrungen, die Sie selbst machen – sei es, dass Sie als Professional mit solchen Menschen zu tun haben, sei es, dass Sie sich selbst in einer solchen Situation befinden.

Peter Werder und Philippe Rothlin haben 2007 mit ihrem Buch „Diagnose Boreout“ einen Begriff für dieses Phänomen eingeführt. Wörtlich bedeutet dies „Ausgelangweilt-Sein“. In der Literatur bzw. Untersuchungen zum Phänomen werden Merkmale beschrieben, wie sie in den drei Beispielen zum Ausdruck kommen: Gefühl von Unterforderung, Langeweile, zunehmendes Desinteresse an der Arbeit, Stress und Symptome, die einem Burnout ähneln. Überdies gehört es offenbar zum Phänomen, dass Betroffene versuchen, dieses zu vertuschen. Und offenbar gehört auch dazu, was in den ersten beiden Beispielen, von denen ich oben erzählte, der Fall war: Dass Betroffene die Situation nicht verändern. Wenn es um die Frage geht, wie es eigentlich zu diesem Phänomen kommt, liegt der Fokus auf Umständen: Es ist etwa von „Person-Job-Mismatch“ die Rede, d.h. Person und Arbeitsinhalte passen nicht optimal zusammen. Oder es ist die Rede von schlechter Führung, davon, dass Arbeitgeber das Potential ihrer Mitarbeitenden zu wenig sehen und nutzen. Es ist vom Arbeitsmarkt die Rede, der Menschen aus Angst vor Erwerbslosigkeit in die falschen Berufe dränge bzw. sie davon abhalte, Veränderung zu wagen. Es wird auf starre Arbeitszeitkonstrukte hingewiesen, die Kreativität beeinträchtigen würden. Schließlich werden gesellschaftliche Werte und Auswirkungen einer Leistungsgesellschaft thematisiert. Sicher kann all dies in einer Situation mitspielen und eine Person beeinflussen. Ja, es gibt schlecht geführte Organisationen. Ja, Angst vor Arbeitsplatzverlust kann berechtigt sein und fördern, in einer Situation zu verharren. Ja, der Zeitgeist kann diese Art Phänomene begünstigen. Nur: Die Auseinandersetzung mit Umständen kann zu Selbstzweck und Alibi werden. Sie hilft dann nicht, Wichtiges zu erkennen, sondern legitimiert und nährt Leiden und Verharren. Letztlich führt dies zu „mehr desselben“ und begünstigt Pathologisierung.

 

Anregungen aus Perspektive des Veränderungskreises ©

Es sind nicht Umstände, die bestimmen, wie wir denken, fühlen und handeln. Es ist unsere Art, Umstände zu sehen, zu interpretieren und darauf zu reagieren.

Wer aus einem Boreout hinauskommen will, wird nicht weiterkommen mit Fokussierung auf Umstände. Wenn ich mich unterfordert, gelangweilt fühle, wenn ich enttäuscht bin, dass Erwartungen an ein spannendes, erfüllendes Berufsleben nicht erfüllt werden, dann wird der Blick auf Umstände diese Gefühle verstärken. Die x-te Wiederholung des Gedankens, vom Chef nicht geschätzt zu werden, das wiederholte Drehen um das Gefühl, in „goldenen Fesseln“ gefangen zu sein, der verstärkte Rückgriff auf Strategien wie Vertuschen oder Kompensieren wird nicht substantiell Änderung herbeiführen – im Gegenteil: Die Chance ist groß, dass es zu „mehr desselben“ kommt, zu mehr negativen Gefühlen, mehr Unzufriedenheit über alles, was nicht gut ist, mehr Verhaltensweisen, die das Ganze noch schlimmer machen und mit der Zeit Selbstvertrauen und Selbstachtung untergraben.

Es ist essenziell, den Fokus von Umständen auf den Kreislauf in Aufmerksamkeitsfokus, Denken, Fühlen und Verhalten zu legen. Das ist nicht individualisierend oder gar moralisierend gemeint im Sinne von: „Wenn in Deiner Firma schlecht geführt wird und Du Dich nicht genügend einbringen kannst, ist das Dein Problem.“ Oder: „Reiß Dich zusammen“. Oder: „Sei dankbar, dass Du überhaupt eine Stelle hast.“ Es ist befreiend gemeint: Nicht der Blick auf Umstände führt zu Ideen und Lösungen. Sondern der Blick nach innen, das Erkunden und besser Verstehen, wie man eigentlich funktioniert, was einem wichtig ist, vom Handeln abhält usw.

Wenn Menschen in ein Boreout geraten, entwickelt sich mit der Zeit ein destruktives Muster in Denken, Fühlen, Verhalten: Der Blick ist auf Mangel gerichtet, beeinträchtigende Gefühle wie Enttäuschung, Frustration, Sinnlosigkeit machen sich breit und Verharren verstärkt das Elend. Neurobiologisch entsteht ein Stresskreislauf. Gehirn und Körper kennen letztlich nur zwei Kreisläufe: Entweder es gibt Gefahr; das bewirkt Überlebens- bzw. Stressreaktionen. Oder alles ist im grünen Bereich; man kann entspannen, regenerieren, das Leben gestalten. Je nachdem kommt es zu anderen neurologischen, chemischen und biologischen Prozessen. Bei einem Boreout geht es zwar nicht um akute Lebensbedrohung, die Prozesse in Gehirn und Körper sind aber vergleichbar. Stressreaktionen sind biologisch auf kurze Zeiträume angelegt. Dauern sie an bzw. wird ein Boreout nicht gestoppt, können das Gefühl von Unterforderung, Langeweile und Verharren tatsächlich krank machen, wie es der Untertitel des Buches „Diagnose Boreout“ suggeriert. Merkmale eines Stresskreislaufes sind u.a. Fokussierung auf Umstände, Konzentrationsschwierigkeiten, fahriges Denken, „Geschwätz im Kopf“, beeinträchtigende Gefühle, reflexartige „fight“-, „flight“- oder „freeze“-Reaktionen, Belastung von Herz-/Kreislauf, Schwächung des Immunsystems und Stoffwechsels, Erschöpfungszustände. Ebenfalls wichtig: Neurobiologisch können wir nicht gleichzeitig in einem Stresszustand und entspannt sein. Entspannung ist aber wichtig, um unseren Fokus zu öffnen und Zugang zu haben zu unseren inneren Ressourcen, zu Erfahrungen und Kreativität. Das heißt, in Stress stellen sich keine guten Ideen ein. Nicht erstaunlich, dass Menschen in einem Boreout oft nicht wissen, was denn gute neue Schritte sein könnten.

Wenn sich ein Boreout-Kreislauf eingespielt hat, kann der Veränderungskreis © ein nützlicher Orientierungsrahmen sein, um Wichtiges zu erkennen, Regie übers eigene Denken und Verhalten zu übernehmen und so den Boden zu Veränderung zu legen. Wichtige Punkte:

  • Genau hinschauen: Wie ist es eigentlich zu dieser Situation gekommen. „Genau hinschauen“ ist nicht zu verwechseln mit mentalem Drehen um Umstände. Es beinhaltet, wichtige Fakten zu erkennen – um in der Folge passend vorgehen zu können. Wenn ich meinen Job liebe, mich aber vermeintlich oder real zu wenig einbringen kann, werden andere Maßnahmen weiterführen als wenn ich jede Art von Routine ablehne oder davon träume, wie schön es wäre, wenn… Also: Welche Fakten geben Anlass zum Gefühl der Unterforderung? Was genau finde ich langweilig? Wie hat sich dieses Gefühl entwickelt? Was waren wichtige Auslöser? Was war davor? Was war anders an der Situation, als ich noch nicht gelangweilt war?
  • Denken, Fühlen und Verhalten unter die Lupe. Dies ist essenziell. Gefühle kommen nicht aus der Luft. Gefühle werden bewirkt durch unser Denken. Wenn ich denke „Ich werde nicht geschätzt“ oder „Immer die gleiche Routine“ oder „War das alles?!“, löst dies „passende“ Gefühle aus: Frustration, Enttäuschung, innere Leere, Sinnlosigkeit. Bei häufiger Wiederholung entstehen Automatismen. Es macht sich ein Lebensgefühl breit, in diesem Fall von Langeweile, Unterforderung, Unzufriedenheit. Dieses beeinflusst das Verhalten. Es ist essenziell, zu erkunden: Mit welchen Gedanken sind meine Gefühle verbunden? Von welchen Annahmen, Überzeugungen gehe ich aus? Stimmen die eigentlich? Gibt es alternative Sichtweisen? Damit werden Muster erkannt bzw. unterbrochen. Das ist die Basis, um anders zu handeln.
  • Üben, den negativen Kreislauf zu unterbrechen. Es ist nicht erstaunlich, dass Menschen in einem Boreout verharren. Das lässt sich mit dem oben erwähnten Stresskreislauf erklären. Je stärker der Fokus auf Umständen und je ausgeprägter die negativen Gefühle, desto weniger komme ich auf gute Ideen. Statt noch mehr zu grübeln, zu analysieren, sich noch elender zu fühlen durch Vertuschungsstrategien und Verharren, kann man üben, die negative Spirale zu stoppen. Jedes Mal, wenn die negativen Gefühle lähmen, wenn die vertrauten Verhaltensweisen keine Veränderung bringen: Stopp. Neurobiologisch werden so neurale Netzwerke unterbrochen, d.h. eingeübte Muster in Denken, Fühlen, Verhalten.
  • Einen motivierenden Horizont entwickeln und selbstverantwortlich entscheiden. Zugleich ist es wichtig, aufzubrechen. Dazu braucht es beides: Einen motivierenden Horizont und die Entscheidung, in dessen Richtung Schritte zu unternehmen. Ohne motivierenden Horizont können Sie nicht gut handeln. Richtung und positive Gefühle fehlen. Zugleich: Wenn Sie nicht ins Handeln kommen, verkommt ein motivierender Horizont zum Luftschloss. Es ist eine Entscheidung erforderlich: Ich will hier Wege finden. Ich will nicht länger leiden. Ich will nicht länger darum drehen, warum ich nicht ändern kann. Ich will am Morgen anders aufstehen, mich anders fühlen – und ich setze mich jetzt damit auseinander, was das beinhaltet. Wie sieht eine Situation aus, in der ich mich nicht unterfordert, gelangweilt, frustriert fühle? Was ist mir wirklich wichtig? Wie kann ich vorgehen? Mögliche Richtungen sind etwa: 1. Das Gespräch mit dem Vorgesetzten suchen und mit konkreten Ideen kommen, die für Sie und die Firma interessant sind. 2. Sich üben, Opfer- und Mangeldenken zu unterbrechen, etwa: Ich konzentriere mich auf das, was mir mein Job zu bieten hat. Ich fokussiere darauf, wie ich hier mitgestalten, Vorschläge einbringen, Eigenregie übernehmen kann. Ich benenne reale Probleme, zeige Konsequenzen auf, bringe Vorschläge ein, reagiere nicht eingeschnappt. 3. Ich setze mich damit auseinander, wie ein guter Jobwechsel aussehen könnte. Gleiche Branche? Etwas ganz Anderes? Ich gebe mir einen Zeitrahmen für ein Brainstorming, denke Alternativen durch, spreche mit Menschen, die Ähnliches gemacht haben.
  • Aufbrechen. Was sind Entscheidungen, die jetzt passen, hinter denen ich stehe, für die ich mich einsetzen will und kann? Was hält mich zurück? Sind es triftige Gründe oder Alibis? Kleine Schritte und „dritte Wege“ können etwas in Gang bringen und helfen, das Hängenbleiben in „Soll ich, soll ich nicht“ zu verlassen. So hat sich der Herr im dritten Beispiel für die Annehmlichkeiten der aktuellen Stelle entschieden und zugleich dafür, Wege zu finden, die Arbeitssituation befriedigender zu gestalten.

Jeder Mensch, der sich selbst an der Hand nimmt, wird früher oder später erfahren, dass oft mehr möglich ist als gedacht. Wo es zu dieser Erfahrung – und sei sie noch so unscheinbar – kommt, gibt es keinen Raum für Unterforderung, Langeweile, Überdruss, Stress, Boreout. Die „goldenen Fesseln“ fallen.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

 

 


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