Grüezi – Guten Tag!
Was geht Ihnen beim Wort „Selbstverwirklichung“ durch den Kopf? In diesem Newsletter nehme ich einen Begriff unter die Lupe, der viel über sich ergehen lassen muss. Und es freut mich, wenn ich Sie anregen kann, für sich zu erkunden, was es mit diesem Begriff auf sich hat – für Sie ganz persönlich.
Viel Anregendes wünscht Ihnen
Inhalte
- „Bin ich langweilig, wenn ich kein Bedürfnis habe nach beruflichem Wechsel?“
- „Selbstverwirklichung“ – einen strapazierten Begriff befreien
- Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
„Bin ich langweilig, wenn ich kein Bedürfnis habe nach beruflichem Wechsel?“
Diese Frage stellt mir eine Seminarteilnehmerin. Im Rahmen von Personalentwicklung gebe ich in einer großen Klinik regelmäßig Seminare zur Thematik „Veränderungskompetenz“. Die Seminarteilnehmerin erläutert: „Ich arbeite in einem Team von mehrheitlich Frauen um die 50. Es ist ein großes Thema hier ‚Mit 50 sollte man doch noch etwas Neues wagen‘. Mich stresst das. Ich arbeite gerne hier und habe kein Bedürfnis nach Veränderung. Bin ich langweilig?“
Mit einer Auftraggeberin aus dem Kontext von Laufbahnberatung plaudere ich über aktuelle arbeitsmarktliche Tendenzen und wie sich diese im Weiterbildungsbedürfnis ihrer Zielgruppe ausdrücken. Sie erzählt mir von einem Artikel, in dem Kritik geübt wird am Druck, jeder müsse sich beruflich selbst verwirklichen.
Selbstverwirklichung?!
Ich beobachte gegenwärtig zwei Phänomene, wenn es um diesen Begriff geht:
Selbstverwirklichung ist in den letzten Jahren so etwas wie ein neues „Muss“ geworden: Topjob, Erfolg, spannendes Leben. Musste dieser Begriff in den 70er Jahren teils zur Legitimierung von Egotrips herhalten, so wird er heute instrumentalisiert zu einer Art kollektiver Peitsche, vor allem in Bezug auf berufliche Entwicklung: Wer dazugehören will, muss sich beruflich selbst verwirklichen. Menschen geraten unter Druck, absolvieren eine Weiterbildung nach der anderen, streben nach vermeintlich Höherem, oft ohne zu wissen, was das beinhaltet. Meist nicht aus innerem Antrieb, Freude, Begeisterung für eine bestimmte Tätigkeit, wünschenswerte Lebensumstände oder ganz einfach Lebensqualität und innere Befriedigung, sondern weil sie meinen, zu müssen… Statt zum Traumjob führt dies oft zu Verunsicherung, Überforderung, Unzufriedenheit, Ernüchterung, Frustration. Mit „Selbstverwirklichung“ hat das nichts zu tun – im Gegenteil: Menschen kommen weg von sich selbst im Versuch, einer sozialen Norm zu entsprechen.
Da liegt das zweite Phänomen, das ich beobachte, auf der Hand: Ablehnung von allem, was mit „Selbstverwirklichung“ in Verbindung gebracht wird. Statt für sich zu klären, was (gesellschaftlich) abläuft und dem Unterschied zwischen sozialer Norm und Selbstverwirklichung auf die Spur zu kommen, beginnen viele, alles abzulehnen, was mit Selbstverwirklichung, Selbstentwicklung und -entfaltung, letztlich: Erfolg und Erfüllung verbunden ist. Man kritisiert jene, die sich dafür stark machen. Man argumentiert, Selbstverwirklichung sei egoistisch oder unrealistisch. Man tarnt Enttäuschung, Unzufriedenheit als „Realismus“, sagt etwa: „Heute muss man doch froh sein, überhaupt eine Stelle zu haben“ oder „Früher hat Arbeit auch keinen Spaß gemacht“ oder „Sich selbst verwirklichen ist Luxus für die, die vom Leben bevorzugt sind“.
Beides ist schade. Und beides hat weniger mit Selbstverwirklichung zu tun als mit gesellschaftlichen Trends.
Ich lade Sie ein, eine Art Frühlingsputz vorzunehmen mit diesem strapazierten Begriff und für sich selbst dessen Bedeutung und Kraft (wieder) zu entdecken – jenseits von Streben nach sozialer Akzeptanz und gehässiger Kritik.
„Selbstverwirklichung“ – einen strapazierten Begriff befreien
Was bedeutet „Selbstverwirklichung“? Wie würden Sie den Begriff umschreiben?
Für mich bedeutet Selbstverwirklichung „Werden, wer man ist“. Ein nicht endender Prozess des Entdeckens und stets mehr zum Ausdruck Bringens der in der eigenen Person angelegten Möglichkeiten und Talente. Ich gehe davon aus, dass wir Menschen vom Leben vieles mitbekommen haben und damit etwas anfangen sollten. So gesehen ist „Selbstverwirklichung“ ein wichtiger und lebensbejahender Begriff.
„Werden, wer man ist“ – nicht wer andere sind oder was andere meinen, was „man“ sein bzw. nicht sein sollte.
Das beinhaltet:
- Sich nicht sozialem Druck und Wettbewerb ausliefern. Orientierung an dem, was andere erwarten, „hip“ finden, als „Erfolg“ definieren, ist nicht Selbstverwirklichung, sondern Anpassung an soziale Normen. Sie müssen überhaupt nichts. Sie müssen nicht dem Traumjob nachjagen. Sie sind kein Langweiler, wenn Sie nicht mit (beruflichen) Erfolgen auftrumpfen wollen. Selbstverwirklichung kann durchaus beinhalten, dass Sie Ihren Alltag ganz unspektakulär gestalten.
- Sich selbst auf der Spur sein. Wie das Wort „Selbst“ andeutet: Selbstverwirklichung steht und fällt damit, dass man Zugang zu sich selbst pflegt. Das heißt, dass man dem Wesen auf die Spur kommt, das man im Kern ist. Das ist ein lebenslanger Prozess des sich selbst Kennenlernens, oft auch des sich Lösens von Unechtem, Angelerntem: Wer bin ich? Was sind meine Talente? Was sind meine echten Bedürfnisse? Was sind meine Stärken und Schwächen? Wann bin ich in meinem Element? Was macht mir Freude? Was ist mir wirklich wichtig? Was sind meine Prioritäten? Und was schließe ich daraus für meine Lebensgestaltung?
- Wachheit und Realitätsbezug. Selbstverwirklichung ist nicht Flucht in Traumwelten, sondern kann nur gelingen in Auseinandersetzung mit der Welt, in der man lebt. Wenn der Arbeitsmarkt wenig Möglichkeiten bietet für das, was ich gerne mache, muss ich dies erst sehen, um adäquat entscheiden zu können: Entweder alle Energie investieren in meinen Traum, in diesem Bereich tätig zu sein – mit der Bereitschaft, damit verbundene Risiken und Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Oder nach Wegen suchen, das, was ich gerne mache, in verwandten Berufsfeldern oder der Freizeit einzubringen.
- Vielfalt statt Mainstream. Selbstverwirklichung beinhaltet für jede Person etwas Anderes. Schließlich sind wir alle unterschiedlich (glücklicherweise!). Selbstverwirklichung ist nicht an bestimmte berufliche Entwicklungen oder Lebensformen gebunden, sondern an den Ausdruck von Individualität. Eine Tanne will nicht Birnbaum werden, sondern ist vollkommen beschäftigt, als Tanne zu wachsen.
- Innere Unabhängigkeit. Wer darauf fokussiert, zu sein, wer er/sie ist, kann das nicht tun ohne innerlich unabhängig(er) zu werden. So jemand hat den Mut, z.B. statt einem Universitätsstudium eine Ausbildung zum Schreiner zu machen. Oder die Kinderbetreuung zu übernehmen. Oder als Spitex-Mitarbeiterin die Wohnungen von Senioren zu reinigen und zugleich einige Monate im Jahr auf Reisen zu sein: Meine 87-jährige Mutter ist ganz beglückt, dass ihr eine solche Person im Haushalt hilft – diese Frau, die mit ihrer Intelligenz gut Karriere im herkömmlichen Sinn hätte machen können, ist immer fröhlich, sichtlich zufrieden und erfreut meine Mutter mit ihren interessanten Reisegeschichten. Vielleicht ist diese innere Unabhängigkeit einer der Gründe, warum Selbstverwirklichung in weiten Kreisen verpönt ist: Innerlich unabhängige Menschen sind nicht manipulierbar. Sie werden für jene, die sich von der Gruppe bestimmen lassen, schnell einmal zur Bedrohung oder zumindest zur Provokation.
- Mut zum eigenen Weg. Das ist wohl die größte Herausforderung, die mit diesem Begriff einhergeht. Selbstverwirklichung erfordert Treue zu sich selbst, den Mut, zu sich zu stehen und eigenständig zu entscheiden. Es braucht heutzutage Mut, zu sagen: Nein, ich brauche keine Karriere im herkömmlichen Sinn. Ich bin zufrieden mit dem, was ich bin und ich stehe damit (fast) jeden Tag gerne auf.
- Echte Erfüllung und Zufriedenheit. Wer auf dem Weg ist zu sich selbst, spürt eine innere Zufriedenheit, die unabhängig ist von Anerkennung aufgrund von Diplomen, Karriereschritten und (beruflichem) Status. Der CEO einer Firma, der mit echtem inneren Elan und natürlicher Führungsqualität eine Firma vor dem Konkurs bewahrt, damit 13‘000 Arbeitsplätze nicht nur erhalten, sondern um 2000 neue aufstocken kann, ist dann ebenso zufrieden wie der Strassenreiniger in unserem Quartier, der mich immer fröhlich begrüßt und stolz darauf ist, als Chef „seines“ Quartiers selbst entscheiden zu können, wie er welche Straße wann reinigt. Beide sind sich selbst. Doch wenn der Strassenreiniger CEO sein müsste und der CEO Strassenreiniger, wären nicht nur sie selbst, sondern wohl auch das Umfeld weniger zufrieden…
- Soziale Kompetenz. Entgegen der Kritik, Selbstverwirklichung sei egoistisch, behaupte ich das Gegenteil: Echt sozial kann eigentlich nur sein, wer einen guten Draht hat zu sich selbst, sein Leben im Dienst seiner echten Bedürfnisse und Talente gestaltet. Wer das tut, ist nicht nur eigenständiger, benötigt weniger Kompensation für innere Leere und Unzufriedenheit, kommt nicht auf die Idee, sich als Opfer von Umständen zu sehen. Eine solche Person opfert sich auch nicht auf, erliegt nicht einem „Helfersyndrom“ und ist gerade deshalb echt in der Lage, offen und da zu sein für andere. So gesehen ist Selbstverwirklichung für alle Beteiligten befreiend und wohltuend – und sozial!
In diesem Sinn möchte ich Sie ermuntern, für sich selbst den Begriff „Selbstverwirklichung“ (neu) zu bestimmen – und Ihr Leben darauf auszurichten. Ohne Druck. Ohne Angst, als Egoist abgestempelt zu werden. Schlicht und einfach, weil Sie verstehen, dass Talente da sind, um entdeckt und zum Ausdruck gebracht zu werden – an dem Ort und auf die Weise, die zu Ihnen passt. Jeder Mensch, der das macht, ist ein Gewinn.
Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…
- Vielleicht interessieren Sie dann meine beiden Newsletters 2014/10 „Man muss nicht dauernd verändern!“ sowie 2016/11 „Hohe Ansprüche – Ressource oder Stolperstein?“.
- Selbstverwirklichung im produktiven Sinn erfordert Veränderungskompetenz: Wissen, worauf es ankommt, um im guten Sinn eigenständig, motiviert und zugleich realistisch das Leben zu gestalten. Und den Mut, dies auch zu tun. In meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“ finden Sie einen Begleiter dazu.
- Der Begriff „Selbstverwirklichung“ hat also so seine Tücken. Während die einen denken „Selbstverwirklichung ist verdächtig“, trauen sich andere nicht, weil sie möglicherweise als Egoist abgestempelt werden. Wenn Sie sich von solchen Fallen befreien möchten, kann mein Buch „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“ nützlich sein.
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