Thinking out of the box

Grüezi – Guten Tag!

Thinking out of the box – unkonventionelles, schöpferisches Denken – ist mehr als ein Slogan. Was es damit auf sich hat, warum es Mut erfordert, nicht immer Beifall erntet und doch Kern von Entwicklung ist, darum geht es in diesem Newsletter.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

Thinking out of the box

Haben Sie schon einmal von Willem Kolff gehört? Seine Geschichte hat mich zu diesem Newsletter inspiriert.

Willem Kolff (1911-2009) ist Erfinder der künstlichen Niere bzw. des Dialysegeräts. Seine Arbeit ermöglichte, dass bis heute Millionen von Nierenpatienten dank Dialyse überleben. Ende 1930er Jahre, nach seinem Medizinstudium in Leiden (NL), war es schwierig, eine Stelle zu finden. Der Internist Leonard Polak Daniëls wollte ihn anstellen, konnte ihn aber nicht bezahlen. Kolff packte die Chance, es gab noch etwas Vermögen in der Familie seiner Frau. Polak Daniëls ermutigte Kolff, unorthodoxe Lösungen zu finden für medizinische Probleme. Kolffs erster Patient starb an Nierenversagen. Kolff hatte die Idee, eine Maschine zu bauen, um Nierenpatienten das Leben zu retten. Er war nicht nur Arzt, sondern auch Tüftler und handwerklich begabt. Zu jener Zeit ging man davon aus, dass Nierenkrankheiten allein mit Diät behandelt werden konnten; etwas anderes wurde gar nicht in Betracht gezogen bzw. für unmöglich gehalten. Polak Daniëls unterstützte Kolff im Experimentieren mit einer Kunstniere und ermunterte ihn, unkonventionell zu denken. Kolff entwickelte die Idee, eine Maschine zu bauen, mit Hilfe derer das Blut eines Patienten außerhalb dessen Körpers gereinigt wird. Er hatte auch Ideen zur Umsetzung. Aber es war Krieg und schwierig, an Material zu kommen. Mit Material eines niedergestürzten Kriegsflugzeuges, einem T-Ford und einer Nähmaschine baute er ein Trommeldialysegerät mit Zellophanschläuchen als Dialysemembran, die er von einem Metzger erhalten hatte. Die medizinische Welt ignorierte ihn oder beäugte ihn argwöhnisch und kritisch, erst recht, nachdem die ersten Patienten – alle sterbenskrank – die Behandlung mit der Kunstniere nicht überlebten. Doch 1945 gelang die Behandlung einer 67-jährigen Frau mit akutem Nierenversagen. Sie erholte sich vollständig und starb 1952. Sie gilt als erste durch Dialyse gerettete Patientin. In den Niederlanden nach wie vor nicht beachtet, zog Kolff nach dem Krieg in die USA. Dort entwickelte er seine Technologie erfolgreich weiter. Er wurde für seine Arbeit vielfach geehrt, mehrmals für den Nobelpreis nominiert, den er aber nie erhielt.

Ohne „thinking out the box” gäbe es keine Dialyse. Die Menschen würden noch immer davon ausgehen, dass die Erde platt ist. Einsteins Theorie wäre nie entwickelt worden. Es gäbe keine Flugzeuge und Smartphones.

Ohne „thinking out the box” würde auch das Leben nicht öffentlich bekannter Menschen anders aussehen. Eine gute Freundin ist ein schönes Beispiel: Sie lebte in konventioneller Ehe in einer konventionellen Umgebung. Nichts falsch damit. Doch sie fühlte sich eingeengt. Sie passte nicht in die „Norm“. Sie fühlte sich kritisch beäugt von den Frauen in der Nachbarschaft, weil sie den Haushalt nicht so führte wie „frau“ das macht. Sie musste etwas unternehmen, wollte sie nicht ersticken. Sie trennte sich von ihrem Mann, bezog eine Wohnung. Bis heute hat sie guten Kontakt mit ihrem Mann, sie sind nicht geschieden. Er ist inzwischen im Altersheim. Sie schaut zu ihm. Etwas nach ihrem Umzug wurde ihre Mutter pflegebedürftig. Sie und ihr Mann konnten nicht im großen Bauernhaus wohnen bleiben. Die Mutter kam ins Altersheim. Meine Freundin konnte nicht mitansehen, wie die Mutter in kürzester Zeit ihre natürliche Aufgewecktheit und Vitalität verlor. Sie kaufte von ihrem Ersparten für ihre Eltern eine Wohnung in der Stadt, in der sie selbst lebt. Die Eltern waren kaum je aus dem Bauerndorf, in dem sie lebten, hinausgekommen. Doch sie machten mit. Sie zogen um, beide weit in den 80ern. Die Mutter konnte innert kürzester Zeit wieder Treppe steigen und kochen. Sie war ganz vergnügt. Und der Vater, ein freundlicher Mann, machte Entdeckungsspaziergänge im Quartier, gewann in der neuen Umgebung Freunde, auch solche, die um vieles jünger waren als er. Zu seinem 90. Geburtstag organisierte er eine Schifffahrt. „Thinking out of the box“…

Ein anderes Beispiel. In einem Seminar, das ich für Parkinsonpatienten gebe, höre ich eine schöne Geschichte: Ein älterer Mann lebt in einem schönen Haus mit großem Garten. Es wird ihm zu viel. Er hat keine Lust, in ein Altersheim zu ziehen. Was macht er? Er kommt auf die Idee, einen Studenten zu finden, der bei ihm wohnen will und bereit ist, Garten- und etwas Haushaltarbeit zu machen. Beide sind happy. „Thinking out of the box“…

Ein drittes Beispiel: Ich berate einen Herrn. Er liebt seine Arbeit. Und er liebt eine Frau. Leider gibt es dazwischen geographische Distanz. Die Frau hat ein Geschäft. Seit längerem quält er sich mit der Frage: „Soll ich den Job aufgeben und zu meiner Partnerin ziehen? Oder soll ich hier bleiben?“ Ich frage ihn, ob er sich schon überlegt habe, zur Partnerin zu ziehen und den Job zu behalten? Etwa, indem er eine Weile pendle und dann wieder neu entscheide? Er reagiert ganz erfreut: An diese „dritte Lösung“ hatte er gar nicht gedacht! Beschwingt beendet er die Beratung. „Thinking out of the box“…

Die Beispiele veranschaulichen: Durch „Thinking out of the box” kommen neue Möglichkeiten in den Blick. Es kommt zu kreativen Ideen, Erkenntnissen, überraschenden Lösungen. Es eröffnen sich neue Perspektiven. Oft wird Entwicklung möglich, von der weit mehr Menschen etwas haben als die, die den Mut aufbringen, gewohnte Pfade in Denken und Verhalten zu verlassen.

Denn ja, „Thinking out of the box“ erfordert Mut. Den Mut, Gewohntes, Vertrautes zu verlassen. Den Mut zum eigenen Weg. Auch den Mut, gängige Meinungen in Frage zu stellen und sich evtl. davon zu trennen. Damit auch den Mut, Gruppendruck zu widerstehen, gegebenenfalls damit zu leben, nicht akzeptiert zu werden, nicht „dazuzugehören“. Die Freundin, von der ich oben erzählte, musste dies bitter erfahren. Gehässigkeiten in der Wohnumgebung ihres Mannes aushalten. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Menschen, die den Mut haben, über das Konventionelle hinauszudenken, zu allen Zeiten oft nicht erwünscht sind, schwere Zeiten haben, verfolgt, verurteilt oder umgebracht werden.

Angst vor Konsequenzen, die eigenständiges Denken mit sich bringt, ist wohl einer der wichtigsten Gründe, warum Menschen im Konventionellen bleiben, falsche Kompromisse eingehen, weil sie das Risiko nicht eingehen wollen, anzuecken. Das ist verständlich. Zugleich traurig. Wie viele Menschen sind unglücklich, sehnen sich nach Lebendigkeit, neuen Möglichkeiten, guten Lösungen. Doch sie scheuen davor zurück, gestehen es sich nicht zu, das Ungewöhnliche zu denken.

Um klar zu sein: Nichts ist falsch mit Konventionen, sozialen Gepflogenheiten. Auch nichts mit „dazugehören“ wollen. Problematisch wird es, wo Entwicklung beeinträchtigt oder verhindert wird. Weiter: „Thinking out of the box” ist nicht zu verwechseln mit Rücksichtslosigkeit, Egoismus. Auch nicht mit „anders“, „speziell“ sein wollen. „Thinking out of the box“ wie ich es verstehe, ist vielmehr Selbstverpflichtung: „Ich habe vom Leben die Fähigkeit bekommen, mich zu entwickeln – und das will ich auch tun.“

Das ist wohl ein zweiter häufiger Grund, warum Menschen „in the box“ denken: Ihr Denken und Verhalten ist Routine geworden. Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass sie eine Situation von verschiedenen Seiten anschauen können, dass es „dritte Lösungen“ gibt, überraschende Wendungen und Lösungen möglich sind. Sie verharren im Gewohnten, Vertrauten, selbst wenn sie unzufrieden sind, leiden oder gar krank werden. Gerade in Veränderungssituationen kann das zum Problem werden. Eine Laufbahnberaterin erzählt in einem meiner Seminare: „Ich berate Menschen in einem großen Staatsunternehmen. Diese Menschen haben oft zwanzig, dreißig Jahre bei diesem Unternehmen die gleiche Arbeit gemacht. Ihre Stellen werden aufgehoben. Viele können sich absolut nicht vorstellen, je etwas anderes zu arbeiten als das, was sie all die Jahre gemacht haben.“

Wir können lernen, „out of the box“ zu denken. Dass dies nicht naives Wunschdenken ist, bestätigen neue neurowissenschaftliche Erkenntnisse – übrigens ein weiteres Beispiel von „thinking out of the box“. Wurde bis vor noch nicht langer Zeit angenommen, dass das menschliche Gehirn ab mittlerem Erwachsenenalter nicht mehr veränderbar ist und wurde daher in diesem Bereich auch kaum geforscht, so weiß man heute, dass das nicht stimmt: Unser Gehirn ist ein Leben lang funktionell und anatomisch veränderbar. Das heißt, wir können immer lernen, anders zu denken und uns anders zu verhalten. Das heißt nicht, dass dies einfach ist. Es erfordert Wissen, Bereitschaft, Entschlossenheit und Training. Doch es ist möglich. Dank Neurowissenschaftlern, die sich ebenfalls nicht mit der gängigen Meinung zufriedengaben, gibt es heute diese ermutigenden Erkenntnisse.

 

Anregungen für den Alltag

Wenn Sie selbst pflegen bzw. lernen wollen, „out of the box“ zu denken, dann wollen Sie vielleicht den einen oder anderen Schritt in Ihren Alltag einbeziehen:

  • Sich bewusst öffnen für neues, anderes Denken. Wenn Sie etwa denken „Ich bin zu alt, um beruflich noch etwas Neues anzufangen“: Stimmt das eigentlich? Was wäre, wenn Sie nicht zu alt wären? Was würden Sie dann tun? Oder wenn Sie überzeugt sind, dass Sie zu wenig Talent haben, um ein Instrument zu spielen: Wie kommen Sie darauf? Wie wäre es, wenn Sie es einfach einmal versuchen?
  • Nichts als gegeben und unveränderbar hinnehmen. Wenn Sie etwa in einer Beziehung festgelaufen sind, aber denken „Nichts zu machen!“ oder sich trösten „In jeder Beziehung gibt es etwas, was nicht toll ist“: Wie würde eine Beziehung aussehen, in der Sie glücklich sind? Sammeln Sie Ideen, halten Sie Wichtiges fest – ohne zu zensurieren. Und werden Sie konkret: Was von dem, was für Sie zu einer glücklichen Beziehung gehört, können Sie hier und jetzt umsetzen? Statt auf bessere Zeiten zu warten, können Sie jetzt aktiv werden. Es wird sich von selbst zeigen, ob Ihr neues Denken und Verhalten die Beziehung auf überraschende Weise belebt. Oder ob Sie in ein „Eisbär in der Wüste“ sind, wie ich dies nenne.
  • Gängige Meinungen hinterfragen: Egal, ob es verinnerlichte Meinungen sind („Einsatz für wichtige Ziele ist egoistisch“, „Wohlstand ist unanständig“, „Erfolg ist suspekt“) oder von der breiten Öffentlichkeit gepflegte („Grossfirmen sind per se Ausbeuter“, „Hohe Steuern sind gerechtfertigt“, „Demokratie überfordert die Bürger“): Vielleicht wollen Sie es sich zum Sport machen, immer wieder mal zu fragen „Stimmt das eigentlich?“ Die obigen Beispiele erinnern daran, dass solche Fragen zu neuen Erkenntnissen führen: Stimmt es eigentlich, dass Nierenpatienten nur mit Diät geholfen werden kann? Stimmt es eigentlich, dass das menschliche Gehirn ab Mitte 30 nicht mehr veränderbar ist? Stimmt es eigentlich, dass ein altes Paar, das ein Leben lang auf einem Bauerndorf gelebt hat, nicht in der Lage ist, den Umzug in eine Stadt zu verkraften? Stimmt es eigentlich, dass ein Parkinsonpatient nicht in einem großen Haus leben kann? Bei uns um die Ecke steht bei einem kleinen Café eine Tafel mit der Aufschrift „Geloof niet alles wat je denkt“ (Glaube nicht alles, was du denkst)…
  • Sich nicht von gängigen Meinungen von dem abhalten lassen, wofür Sie sich einsetzen wollen. Dazu ein weiteres schönes Beispiel: In den 1950er Jahren ging man davon aus, dass ein Mensch eine englische Meile (1.6 km) nicht unter vier Minuten laufen konnte. Man ging davon aus, dass der menschliche Körper dazu nicht in der Lage war, ein Versuch zum Tod führen würde. Roger Bannister (1929-2018), britischer Mittelstreckenläufer und Neurologe, ließ sich dadurch nicht einschränken. Er trennte sich von dieser Meinung. Er bereitete sich körperlich und mental darauf vor, diesen Rekord zu brechen. 1954 gelang es ihm. Er überlebte! Danach wurde der Rekord plötzlich wiederholt gebrochen – als ob Bannister eine Art Bann gebrochen hätte. Einen Bann im Denken. Haben Sie den Mut, einen motivierenden Horizont zu entwickeln und sich darauf auszurichten. Lassen Sie sich nicht einreden, dass das Träumerei ist, nicht geht. Auch hier zu aller Klarheit: Ich propagiere weder Selbstverwirklichung als Egotrip noch Wunschdenken. Ich propagiere Mut, das Leben zu gestalten. Und: Je schwieriger, unruhiger, unberechenbarer der Zeitgeist, desto wichtiger ist es, in sich selbst verankert zu sein und sich für das einzusetzen, was für einen das Leben lebenswert und sinnvoll macht.
  • Wappnen Sie sich gegen „in the box denken“ – in Ihrem eigenen Denken und dem Ihrer Umgebung. Wie können Sie Sätzen wie „Geht nicht“, „Haben wir schon immer so gemacht“ begegnen? Ein erster Schritt ist es vielleicht, dass Sie solche Sätze mit einem inneren roten Lämplein verbinden, das Sie daran erinnert: Stop. Erst genau hinschauen. Nicht in die „Geht nicht“-Falle zu treten bedeutet nicht, reale Schwierigkeiten auszublenden. Sondern Wege zu finden, wie diesen anders begegnet werden kann als mit einem „Geht nicht“.

So verstanden ist „Thinking out of the box“ mehr als ein modischer Slogan. Es ist eine Lebenshaltung: „Ich will mich, mein Denken und Verhalten stets weiterentwickeln. Ich richte mich nicht ein in der Komfortzone von Gewöhnung und allgemeiner sozialer Akzeptanz. Ich will immer wieder über mich selbst hinauswachsen.“ „Thinking out of the box“ macht das Leben nicht immer einfacher. Sicher aber lebendiger, interessanter und befriedigender. Es befreit. Persönlich finde ich Menschen, die den Mut haben, „out of the box“ zu denken, erfrischend, belebend, interessant. Sie sind ein Gewinn für uns alle. Nicht nur, wenn sie eine Kunstniere entwickeln.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • „Thinking out of the box“ ermöglicht Veränderung. Und echte Veränderung erfordert oft „Thinking out of the box“. Wenn Sie in diesem Geist Veränderung angehen wollen, finden Sie in meinem Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“ hoffentlich einen ermutigenden, nützlichen Begleiter. Das Buch ist soeben in der 5. Auflage erschienen!

 

 


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