Tragfläche kreieren

Grüezi – Guten Tag!

Willkommen zurück nach der Newsletter-Sommerpause! Hoffentlich konnten Sie sommerliche Leichtigkeit des Seins genießen und Energie tanken. In dieser Newsletter-Ausgabe nehme ich eine Frage auf, der ich immer wieder mal begegne: Wie kann man bei anderen Tragfläche kreieren für Veränderung – insbesondere, wenn sich diese damit schwertun?

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

 

Inhalte

 

Wenn man andere für Veränderung gewinnen will bzw. muss…

Soeben habe ich mich im Rahmen eines Interviews mit diesem Thema beschäftigt: Wie kann man bei anderen Tragfläche kreieren, sie für Entscheidungen und Veränderungen gewinnen – insbesondere, wenn sie sich damit schwertun?

Das Interview bezieht sich auf den Kontext von Kita-Leitungspersonen. Diese müssen in einem dynamischen Kontext mit vielen und wechselnden Involvierten viele und oft rasch Entscheidungen treffen, die mit Veränderungen einhergehen. Und erfahren, dass Mitarbeitende sich nicht immer ohne Weiteres darauf einlassen.

Ein interessantes Thema – nicht nur in diesem Kontext. Ich denke etwa an:

  • Führungspersonen und Teamleitende in Unternehmen und Organisationen – diese müssen laufend Strategien umsetzen und zugleich ihre Mitarbeitenden „mitnehmen“.
  • Professionals, etwa Ärztinnen, Physiotherapeuten, Laufbahnberatende und im breiten Sinn alle, die in beratender oder begleitender Funktion tätig sind, von Lifestyleberatung über Betreuung von Senioren zu Hause, Sozialarbeit bis zu Budgetberatung – gute Professionals sind daran interessiert, dass die Menschen, mit denen sie arbeiten, nicht nur Informationen und/oder „Behandlung“ bzw. „Lösungen“ bekommen, sondern neues Wissen in ihr Leben übertragen und eigenverantwortlich umsetzen.
  • Personen, die in Vereinen, Wohneigentümergemeinschaften, Selbsthilfegruppen usw. Leitungsfunktionen übernehmen – hier kann es geschehen, dass sich jeder etwas als Führung versteht bzw. eigene Vorstellungen hat, in welche Richtung es gehen soll.
  • Lehrpersonen – auch deren Unterricht wird umso erfolgreicher, je mehr sie die Personen, mit denen sie arbeiten, gewinnen und befähigen können, Gelerntes zum Eigenen zu machen. Sie haben natürlich einen Auftrag, doch wenn dieser nicht „ankommt“, wird es bald einmal schwierig.
  • Eltern – Tragfläche kreieren ist nicht abhängig vom Alter. Schon kleine Kinder haben einen eigenen Willen und können erheblich resolut reagieren, wenn sie nicht verstehen, warum sie etwas tun oder lassen sollen.
  • Last but not least Politiker – auch sie sollten Tragfläche kreieren, sodass sie Land und Leute gewinnen können, „mitzumachen“ – nicht, indem sie Versprechungen oder Druck machen, sondern weil Menschen verstehen, warum es braucht, was politisch eingefädelt wird.

 

Was spielt, wenn andere sich nicht ohne Weiteres auf Veränderung einlassen?

Wie der Titel dieses Newsletters auf den Punkt bringt: Es gibt keine Tragfläche. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben, meist spielen mehrere.

  • Es wird nicht verstanden, warum es bestimmte Schritte bzw. Veränderung braucht.
  • Veränderung erfordert immer Offenheit für Neues und wirkt sich aus auf Gewohnheiten in Haltung und Verhalten. Das fühlt sich meist nicht angenehm an und kann Angst machen. Viele mögen deshalb Veränderung nicht. Doch es ist zu kurz um die Kurve, gleich zu folgern, dass es Widerstand ist, wenn andere sich nicht ohne Weiteres auf Veränderung einlassen. Und selbst wenn es so wäre, ist es nicht erfolgsversprechend, die Haltung einzunehmen „Die müssen jetzt einfach. Punkt.“. Veränderung lässt sich natürlich erzwingen. Doch das wird im besten Fall das Erreichen eines Ziels ermöglichen, doch ohne Tragfläche werden Erfolge nicht von Dauer sein. Im schlechtesten Fall wird Widerstand kreiert und ist man am Schluss mehr beschäftigt damit, mit diesem Widerstand umzugehen als Konkretes umzusetzen, geschweige denn, nachhaltig Positives zu erreichen.
  • Die Veränderung ist inhaltlich nicht gut – es gibt evtl. durchaus berechtigte Bedenken, ob das, worauf man sich einlassen soll, inhaltlich fundiert und sinnvoll ist, sich in der konkreten Situation umsetzen lässt, dort Wert zufügt und positive Entwicklung ermöglicht.
  • Die Perspektiven, praktischen Herausforderungen und Bedürfnisse derer, die etwas tun oder lassen sollen, werden nicht ernst- und aufgenommen.
  • Rollenverständnis. Wo Personen, die andere für Entscheidungen und Veränderungen gewinnen wollen oder müssen, davon ausgehen, dass sie am besten wissen, was gut ist und erwarten, dass andere das auch so sehen, gibt es keine Tragfläche.
  • Mangelnde Präsenz. Wenn etwa in einem Team alle Teilzeit arbeiten und nicht Raum geschaffen und Zeit genommen wird, um dafür zu sorgen, dass alle involviert werden und verstehen, wohin es gehen soll, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass jeder auf sein Eigenes fokussiert, mit anderen Dingen beschäftigt ist, abgelenkt, nicht konzentriert und auch nicht kommittiert.
  • Stress, Druck, Instabilität, „Veränderungsmüdigkeit“. Wir sind auf vielen Ebenen mit immer rascher erfolgenden und eingreifenden Veränderungen konfrontiert. Viele Menschen sind chronisch im „Stress-Modus“. Zu diesem Modus gehört, dass man auf Umstände fokussiert, die als unangenehm, belastend oder bedrohlich wahrgenommen werden. Im „fight-flight-oder freeze-Modus“, der mit Stress einhergeht, wird Neues ab-gelehnt, bekämpft, davor ausgewichen oder versucht, den Status Quo zu erhalten. Keine gute Basis, Veränderungsprozesse mitzugestalten und dies so zu tun, dass man für sich selbst Entwicklungsmöglichkeiten und Gewinn sieht, auch, wenn man das, was man tun oder lassen soll, nicht nur schön findet. Viele Menschen haben keinen inneren „Anker“, sind wenig belastbar, interessiert und vielleicht sogar nicht in der Lage, sich auf Neues einzulassen und Prozesse mitzutragen – und wehren verständlicherweise alles ab, was noch mehr aus der Komfortzone führt.

Falls Sie sich in Ihrem Kontext gerade selbst die Frage stellen „Wie kann ich hier Tragfläche kreieren?“, wollen Sie vielleicht kurz innehalten und erkunden: Was könnten in meiner Situation Gründe sein, warum es anspruchsvoll ist, andere für Veränderung zu gewinnen?

 

Tragfläche kreieren – wie gelingt dies? Universale Prinzipien

Ich fokussiere hier auf Schlüsselelemente – eine Art Checkliste und Anregungen, die in jedem Kontext wichtig sind. Schön, wenn diese Sie inspirieren, Ihr eigenes Vorgehen und die Situation in Ihrem Kontext zu reflektieren und Wege zu finden, die Positives ermöglichen.

  • Aus Überblick und mit Umsicht vorgehen. Verstehen, was in diesem Kontext läuft, wie die Beteiligten „ticken“, was reale Probleme sind und inwieweit vorgesehene Schritte und Veränderungen hier anschliessen.
  • Vergewissern: Sind die Schritte oder die Veränderung inhaltlich fundiert? Beruhen sie auf Annahmen, die stimmen und ermöglichen sie positive Entwicklung? Inwiefern? Wie?
  • Menschenbild und Rollenverständnis unter die Lupe: Traue ich Menschen zu, zu verstehen und mitzudenken? Bin ich interessiert, ihre Sichtweisen einzubeziehen? Ermögliche ich Kooperation, auch wenn eine Entscheidung oder Strategie nicht verhandelbar ist? Gebe ich Spielraum bei der Art, wie konkret vorgegangen wird? Wo sich die Beteiligten gehört, ernst genommen fühlen, in der Umsetzung einbezogen werden und erfahren, dass berechtigte Anliegen aufgenommen werden, wird eine gute Basis gelegt für produktive Prozesse, die von den Beteiligten motiviert und selbstverantwortlich mitgetragen und mitgestaltet werden.
  • Transparent kommunizieren. Tragfläche entsteht umso eher, je mehr Betroffene nachvollziehen können, warum sie sich auf bestimmte Schritte, Vorgehensweisen, Strategien und Veränderungen einlassen sollen.
  • Um Tragfläche zu schaffen, ist es essenziell, den Betroffenen zuzutrauen und zuzumuten, sich zu involvieren. Womit genau tun sie sich schwer? Wie müsste das konkrete Vorhaben verlaufen, sodass es für sie Sinn macht und sie motiviert, mitzumachen – ohne alles immer schön finden zu müssen, aber so, dass sie dahinterstehen können? Weil sie verstehen, dass es diese Schritte braucht, dass diese fundiert, überlegt und im Dienst positiver Entwicklung stehen und sie selbst dabei auch etwas gewinnen können?
  • Berechtigte Bedenken und reale Probleme einbeziehen. Es gibt immer Menschen, die aus Prinzip gegen alles sind. Die Mehrheit wird aber zu gewinnen sein, wenn sie die Gelegenheit haben, einzubringen, womit sie sich schwertun. Indem dies aufgenommen wird, zeigt sich auf natürliche Weise, ob diese Personen mit ihren Bedenken einen Punkt haben – oder ob sie aus Prinzip gegen Neues sind. Im ersten Fall ist es wichtig, gemeinsam zu schauen, wie die realen Probleme ins Vorhaben integriert werden können. Im zweiten Fall ist es wichtig, klar zu sein: Berechtige Anliegen werden aufgenommen, prinzipielles Dagegensein wird nicht toleriert.
  • Gemeinsames Finden von praktischen Lösungen für praktische Probleme stimulieren. Gemeinsam „genau hinschauen“: Was ist hier die Ausgangslage? Wie können wir einzelne Punkte noch besser berücksichtigen? Und individuell und gemeinsam einen „motivierenden Horizont“© entwickeln: Wie müsste diese Veränderung verlaufen, sodass wir am Schluss sagen können „Es war anspruchsvoll, doch der Einsatz hat sich gelohnt“?
  • Widerstand führt zu mehr Widerstand. Andere unter Druck zu setzen, führt nicht zu Commitment und kaum zu Erfolg. Man kann aber Konsequenzen von Widerstand in den Blick nehmen. Etwa: „Ich verstehe, dass Sie es nicht schön finden, auf einen gesünderen Lebensstil umzustellen, weil das verbunden ist mit Abschied von geliebten Gewohnheiten. Wir können zusammen schauen, wie Sie das angehen können, sodass Sie trotz allem dahinterstehen – nicht mit Zwang, sondern weil Sie verstehen, was Sie gewinnen können. Wenn Sie dabeibleiben ‚Geht nicht‘, ‚Keine Zeit‘ usw., ist es besser, unsere Zusammenarbeit zu beenden, das wäre für uns beide vergeudete Zeit und Energie.“
  • Kreativität. Nicht selten führen unkonventionelle Vorgehensweisen zu überraschenden Resultaten. So erzählt Jens-Uwe Martens, Autor von empfehlenswerten Büchern zu Motivation, die Geschichte eines Vaters, dessen kleiner Sohn nicht einsah, warum er in den Kindergarten eintreten sollte. Statt Druck zu machen, erstellten Vater und Mutter eine Liste von positiven Dingen, die ihren Sohn im Kindergarten erwarteten und worüber er sich freuen würde. Sie erzählten am Familientisch begeistert davon, was man in einem Kindergarten alles machen kann, was es für Vorteile hat, all das Spannende, was man lernen und erfahren kann. Frühmorgens am Tag, als es soweit war, fand der Vater den Buben bereits angezogen im Wohnzimmersessel warten – wie ein Rennpferd in den Startblöcken, voller Energie und der Abenteuerlust, selbst zu erfahren, was es mit dem Kindergartenleben auf sich haben würde. Tragfläche kreieren war kein Thema mehr.

Ich wünsche Ihnen die Erfahrung, wie viel Energie es gibt, wenn man Wege findet, andere für Neues zu gewinnen und Veränderung mitzutragen – so, dass sie selbst verstehen, warum es Veränderung braucht und Wege finden, wie sie einen entsprechenden Prozess für ihre eigene Entwicklung nutzen können.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • Wenn Sie interessiert sind an dem Interview, das ich für die Zeitschrift Praxis Kita-Leitung gegeben habe, können Sie dieses nach der Publikation in der November-Ausgabe zu gegebener Zeit auf unserer Website unter Interviews via einen Link lesen.

 


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