Verharren vs. Aufbrechen

Bei aller Vielfalt, wie Menschen Veränderung begegnen, lassen sich zwei Muster erkennen: Verharren und Aufbrechen. Aktuelle Erkenntnisse in Psychologie und Neurobiologie ermöglichen, diese Muster zu verstehen. Umgang mit Veränderung kann nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn Denken, Fühlen und Verhalten „Aufbrechen“ ermöglichen. Neue Erkenntnisse sind überaus ermutigend: Denk- und Verhaltensmuster sind veränderbar.

Der Veränderungskreis © ist ein Orientierungsrahmen, der in die Lage setzt, jeder Veränderung produktiv zu begegnen, egal, ob diese erwünscht oder erzwungen ist.

Im Kern bezieht sich der Veränderungskreis auf Denk- und Verhaltensweisen, die ermöglichen, Regie zu übernehmen und Situationen so zu gestalten bzw. anzugehen, dass positive Prozesse in Gang kommen und Wichtiges erreicht werden kann. In Sibylle Toblers Buch „Neuanfänge – Veränderung wagen und gewinnen“ wird auf einfach verständliche Weise Essenzielles dazu erklärt. Viele praktische Anregungen ermöglichen, unmittelbar damit an die Arbeit zu gehen.

Vielleicht genügt Ihnen dies. Prima. Vielleicht wollen Sie auch mehr wissen, vor allem, worauf es ankommt, wenn es „klemmt“.

Es wird intuitiv einleuchten, dass die im Veränderungskreis enthaltenen Dimensionen erfolgreichen Umgangs mit Veränderung wichtig sind. Vielleicht stellt sich aber die Frage: Wie kommt es, dass es Menschen gibt, die auf natürliche Weise in den Veränderungskreis einsteigen und auch in schwierigen Situationen Erstaunliches bewirken? Und wie kommt es, dass es Menschen gibt, denen dies nicht ohne Weiteres gelingt, die sich schwer tun mit Veränderung, oft auch gute Gründe haben, warum sie nicht verändern können oder wollen und die auch dann in Situationen verharren, wenn diese mit Leiden verbunden sind?

Dazu ist es interessant, aktuelle Erkenntnisse in Psychologie und Neurobiologie einzubeziehen. Sie lassen besser verstehen, warum und wie unser Denken und Fühlen unser Verhalten steuert. Nicht die Umstände sind es, die bestimmen, wie wir Veränderungen begegnen, sondern unsere Wahrnehmung, das, was wir denken und fühlen.

Psychologische und neurobiologische Erkenntnisse ergänzen und vertiefen, was im Veränderungskreis angelegt ist – und untermauern dessen Relevanz. Sie sind in Sibylle Toblers Buch “Veränderungskompetenz fördern“ (Kohlhammer, 1. Aufl. 2021) aufgenommen.

Psychologie: „Verharren“ vs. „Aufbrechen“

Psychologische Ansätze, die sich im weitesten Sinn damit beschäftigen, wie Menschen Schwieriges bewältigen – etwa Bewältigungsforschung, Motivationspsychologie, Persönlichkeitspsychologie, in neuerer Zeit Positive Psychologie, Resilienzforschung usw. –, führen darauf hinaus, dass sich die Vielfalt, wie Menschen ihr Leben gestalten und damit auch Veränderung angehen, in zwei Muster von Denken, Fühlen und Verhalten gruppieren lässt.

Es gibt Haltungen und Verhaltensweisen, die förderlich sind. Diese helfen, Veränderung produktiv zu begegnen und Schwieriges zu meistern. Sibylle Tobler nennt dies „Aufbrechen“. Und es gibt Haltungen und Verhaltensweisen, die beeinträchtigend sind. Diese erschweren oder verunmöglichen es, Klarheit zu gewinnen und Entschlossenheit aufzubauen, um zu tun, was vorwärts führt. Sibylle Tobler nennt dies „Verharren“.

Aufbrechende steigen meist auf natürliche Weise in den Veränderungskreis ein. Sie pflegen Haltungen und Verhaltensweisen, die dies ermöglichen: Sie schauen genau hin, setzen sich mit sich und der Situation auseinander, entwickeln motivierende Perspektiven, treffen eigenständige Entscheidungen und gehen situationsgerecht vor. Auch sie sind nicht gefeit vor Schwierigkeiten, Enttäuschungen, Hindernissen. Sie nehmen diese als Anlass, erneut genau hinzuschauen.

Verharrende steigen nicht ohne weiteres in den Veränderungskreis ein. Ihre Haltungen und Verhaltensweisen erschweren dies: Oft nehmen sie sich keine Zeit, genau hinzuschauen. Sie gehen von unüberprüften Annahmen aus, greifen auf Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen zurück und lassen sich von Gefühlen leiten, die sie beeinträchtigen und zu mehr desselben führen, was sie nicht wollen. Negative Erfahrungen nehmen sie nicht als Anlass, erneut genau hinzuschauen, sondern als Bestätigung: „Ich habe es ja gewusst: Bei mir funktioniert dies nicht.“ Ein Teufelskreis.

Insbesondere Julius Kuhl zeigt in seiner PSI (Persönlichkeits-System-Interaktionen)-Theorie, einer umfassenden Persönlichkeitstheorie, wie es kommt, dass es Menschen gibt, die ihr Leben gestalten, während andere ihr Leben „erdulden“. Er definiert vier psychische Systeme, die eine „reife Persönlichkeit“ auszeichnen: 1. Die Fähigkeit, Absichten zu bilden (Intentionsgedächtnis). 2. Die Fähigkeit, ins Handeln zu kommen, Absichten umzusetzen (Handlungssteuerung). 3. Die Fähigkeit, Probleme zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen (Objekterkennungssystem). Und 4. die Fähigkeit, Distanz zu nehmen, in einen Überblick zu kommen und dadurch Zugang zu inneren Ressourcen zu finden (Extensionsgedächtnis). „Aufbrechende“ kennzeichnet, dass sie situationsgerecht zwischen diesen vier Systemen wechseln zu können. „Verharrende“ bleiben oft hängen bei Absichten, die sie nicht umsetzen. Oder sie fokussieren so stark auf Probleme, dass sie Überblick und Zugang zu sich selbst verlieren. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Fähigkeit zur Gefühlsregulierung: „Aufbrechende“ können flexibel zwischen diesen Systemen wechseln, weil sie negative Gefühle aushalten können ohne darin hängen zu bleiben (Frustrationstoleranz). Und weil sie positive Gefühle aktivieren können, die das Handeln erleichtern (Selbstmotivierung). Im Veränderungskreis wird auf natürliche Weise diesen Elementen Rechnung getragen.

Neurobiologie: „Stress/Survival“ vs. „Entspannung/(Re)Creation“

Neurobiologische Ansätze erschließen immer mehr Wissen über die komplexe Wechselwirkung zwischen Denken, Fühlen, Verhalten und damit verbundenen physiologischen Prozessen in Gehirn und Körper. Aktuelle Erkenntnisse sind überaus ermutigend: Veränderung von Denken, Fühlen, Verhalten ist nicht Utopie, sondern möglich!

Aufgrund immer besserer technologischer Möglichkeiten ist immer mehr bekannt darüber, dass und wie wir mit unserem Denken, Fühlen und Verhalten nicht nur äußere Resultate bewirken, sondern auch neuronale, chemische, biologische und genetische Prozesse in Gehirn und Körper beeinflussen.

Kein Zweifel: Was häufig gedacht, gefühlt, getan wird, wird zum Automatismus. Zur Gewohnheit. Im Alter von ca. 35 Jahren erfolgt rund 95% unseres Denkens, Fühlens und Verhaltens automatisiert und unbewusst. Was oft praktisch ist, kann gerade in Veränderungssituationen zum Problem werden: Wer sich angewöhnt hat, das Glas halb leer zu sehen, wird dies bei einer Kündigung, dem Trennungswunsch der Partnerin oder der Konfrontation mit einer Krankheitsdiagnose kaum von einem Tag auf den anderen ändern. Schon gar nicht, solange er oder sie auf „Autopilot“ ist, Sicht- und Denkweisen nicht unter die Lupe nimmt, sondern sich mit ihnen identifiziert.

So gesehen ist es verständlich, dass in Praxis und Forschung bis heute oft davon ausgegangen wird, dass Gewohnheiten in Denken, Fühlen und Verhalten im besten Fall „überschrieben“ (so etwa der deutsche Neurowissenschaftler Gerhard Roth), vielleicht leicht modifiziert, aber kaum geändert werden können.

Neuere Erkenntnisse bestätigen immer mehr: Veränderung ist möglich. Wir wissen heute, dass Gehirn und neurale Netzwerke funktionell und anatomisch ein Leben lang veränderbar bleiben (Neuroplastizität). Und wir wissen immer mehr darüber, dass unsere Gene nicht sozusagen automatisch über unser Schicksal bestimmen, sondern erst aktiviert werden müssen (Epigenetik). Auch hier spielen Denken, Fühlen und Verhalten eine wichtigere Rolle als bisher angenommen.

Interessanterweise lässt sich neurobiologisch die Vielfalt individueller Denk- und Verhaltensmuster ebenfalls in zwei Kreisläufe gruppieren: Es gibt einen Stress/Survival-Kreislauf. Und es gibt einen Entspannungs-/(Re)Creation-Kreislauf (in Orientierung u.a. an Joe Dispenza).

Wir kommen in Stress-/Survival-Modus, wenn wir Gefahr wahrnehmen. Gehirn und Körper schalten dann in den Alarmmodus: Unser Fokus verengt sich und liegt auf als Gefahr wahrgenommenen Umständen. Unsere Gehirnaktivität ist überhöht, zugleich sind klares Denken und Kreativität beeinträchtigt. Limbisches System (die „Chemiefabrik“ in unserem Hirn) sowie das vegetative Nervensystem bewirken, dass wir unmittelbar in einen Fight-, Flight- oder Freeze-Modus kommen. In akuter Gefahr ist dies (überlebens)wichtig. Als Dauerzustand schädigt es mentale und physische Gesundheit.

Im Entspannungs-/(Re)Creation-Modus sind wir, wenn wir uns sicher fühlen. Jetzt schalten Gehirn und Körper in Entspannungs- und Regenerationsmodus. Dies ist der Zustand, in dem wir uns mental und körperlich erholen, Zugang zu uns selbst haben und auf Ideen kommen, wie wir Situationen anpacken können. So haben Sie sicher auch schon erfahren, dass Sie angestrengt nach einer Lösung für ein Problem gesucht haben – und dann unter der Dusche, als Sie überhaupt nicht daran gedacht haben, plötzlich die zündende Idee hatten.

Zusammenfassung

  • Psychologisch gesehen sind Menschen im Modus des Aufbrechens oder Verharrens. Dies ist verbunden mit „kompatiblen“ Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen. Man kann nicht verharrend aufbrechen (oder nur mit einem Mehraufwand an Willen und Energie). Man kann nicht gleichzeitig Opferdenken pflegen und Erfolg erzielen. Man kann nicht gleichzeitig Regie übernehmen und resignieren.
  • Neurobiologisch gesehen sind Menschen im Modus von Stress/Survival oder Entspannung/(Re)Creation. Ausgelöst wird dies durch Wahrnehmung und Interpretation von Umständen (Gefahr oder Sicherheit), inneren Prozessen (Schmerz oder Wohlbefinden) oder auch allein mental (wir können allein mit Gedanken, etwa Gedanken an die nervige Arbeitskollegin, Stressreaktionen bewirken bzw. uns mental selbst beruhigen).
  • Verharren vs. Aufbrechen sind nicht identisch mit Stress/Survival vs. Entspannung/(Re)Creation. Eine aufbrechende Person kann in akuten Stress geraten. Eine verharrende Person kann ganz entspannt sein. Sibylle Tobler hat dazu den Haltungs-/Verhaltensquadranten entwickelt, in dem Bezüge zwischen den beiden Kreislauf-Paaren hergestellt werden. Dieser Quadrant wird in ihrem Buch “Veränderungskompetenz fördern“ beschrieben.
  • Was häufig gedacht, gefühlt, getan wird, wird zum Automatismus, zur Gewohnheit. Was für jeden Lernprozess gilt, gilt auch für Denk- und Verhaltensmuster. Ebenso wie wir durch Wiederholung und Übung irgendwann Auto fahren können, ohne jede Bewegung bewusst überlegen zu müssen, greifen wir reflexartig auf vertraute Sicht-, Denk- und Verhaltensweisen zurück. Diese können förderlich oder beeinträchtigend sein.
  • Denk- und Verhaltensmuster können geändert werden. Wir können lernen, mehr in einen Modus des Aufbrechens und auch von Entspannung/(Re)Creation zu kommen.

Ausblick auf Umgang mit Veränderung

Um Veränderungen von Grund auf produktiv begegnen zu können, ist auf diesem Hintergrund wichtig:

  • Verstehen, dass Umgang mit Veränderung bestimmt wird durch unsere Wahrnehmung, unser Denken, Fühlen und Verhalten – nicht durch Umstände.
  • Wissen aufbauen, dass es die beiden Kreisläufe „Verharren“ vs. „Aufbrechen“ sowie „Stress/Survival“ vs. „Entspannung/(Re)Creation“ gibt und was ihnen zugrunde liegt.
  • Wissen aufbauen, dass und wie Denk- und Verhaltensmuster geändert werden können – selbst, wenn diese sich über viele Jahre entwickelt haben und zu Automatismen geworden sind.
  • Bereitschaft, Entschlossenheit, Mut und Ausdauer, um Denk- und Verhaltensweisen einzuüben, die ermöglichen, „aufzubrechen“.

Der Veränderungskreis hilft, auf pragmatische und motivierende Weise entsprechende Schritte umzusetzen – in Bezug auf eine konkrete Veränderungssituation und passend zur Person. Damit wird Umgang mit Veränderung mehr als die Bewältigung eines „Ereignisses“. Er beinhaltet dann, von Grund auf zu lernen und zu üben, das eigene Leben zu gestalten. Dies ist zugleich motivierend: Der Fokus liegt nicht mehr so auf einem (oft unliebsamen) Ereignis, sondern auf der Kunst, ein befriedigendes Leben zu führen.

 


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