Veränderung in kleinen Schritten?

Grüezi – Guten Tag!

Ist es sinnvoll, große Veränderung in kleinen Schritten anzugehen? Was sind die Vorteile? Dazu mehr in diesem Newsletter.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

Veränderung in kleinen Schritten?

Kürzlich gelangte eine Journalistin der Zeitschrift Emotion mit einer Interviewanfrage an mich: Sie will sich darüber unterhalten, wann es besser ist, Veränderungen in kleinen Schritten langsam anzugehen und wann, „All-in“ zu gehen, also einen radikalen Schritt zu wagen. Sie fragt, ob es nicht sinnvoll ist, in kleinen Schritten vorzugehen statt gleich das ganze Leben auf den Kopf zu stellen. Als Beispiele nennt sie: Statt gleich von der Großstadt aufs Land zu ziehen, erst einmal längeren Urlaub auf dem Land machen. Oder: Statt mit dem Traum beruflicher Selbstständigkeit gleich den Job zu kündigen, erst einmal parallel zur Erwerbsarbeit erste Schritte umsetzen.

Was ist Ihre spontane Antwort auf diese Frage?

Im letzten Newsletter ging es um eine Person, die ihr Leben auf den Kopf stellte und buchstäblich in ein völlig anderes Leben auswanderte. In diesem Newsletter geht es um Veränderung in kleinen Schritten.

Meine niederländische Schwiegermutter pflegte zu sagen „Iedere dag een draadje geeft een pak in een jaar” – “Jeden Tag einen Faden gibt einen Anzug in einem Jahr“. Gilt dieses Prinzip auch für Veränderungswünsche, wie etwa den erwähnten Wunsch, aus der Großstadt aufs Land zu ziehen, sich beruflich selbstständig zu machen? Vielleicht auch: Noch etwas ganz anderes zu machen? Oder: Wege zu finden, sich anders zu fühlen – glücklicher, erfüllter, vitaler, gesünder usw. Viele Menschen haben solche Wünsche.

 

Die Gretchenfrage: Was verbinde ich mit dem Veränderungswunsch? Was ist das Motiv?

Noch bevor Sie etwas tun oder sich die Frage stellt, was ein gutes Vorgehen ist: Entscheidend ist immer, sich damit auseinanderzusetzen: Warum Veränderung? Was ist mit dem Wunsch, etwas zu verändern, verbunden? Warum will ich aufs Land ziehen? Was verbinde ich mit einem Leben auf dem Land? Wie komme ich darauf, mit beruflicher Selbstständigkeit zu liebäugeln? Was ist verbunden mit dem Traum, etwas ganz anderes zu machen, sich quasi „neu zu erfinden“? Was verspreche ich mir von einem solchen Schritt? Was ist das Motiv? Will ich primär eine unbefriedigende Situation hinter mir lassen – oder zieht mich das Bild eines Lebens auf dem Land so stark, weil ich einfach denke, dass mir ein solches Leben entspricht? Ist es Ärger am Arbeitsplatz, der die Idee beruflicher Selbstständigkeit verlockend macht – oder habe ich schon lange einen spezifischen Wunsch, was eine solche Tätigkeit beinhaltet?

Ohne diese Frage zu erkunden und eigene Antworten zu finden, macht es wenig Sinn, zu verändern. Indem Sie Klarheit schaffen, bevor Sie irgendetwas tun, können Sie angemessen vorgehen.

Diese Klärung – warum und wozu Veränderung? – ist letztlich viel wichtiger als die Entscheidung, ob man in kleinen Schritten vorgeht oder einen radikalen Schritt wagt. Im Kern ergibt sich aus dieser Klärung auf natürliche Weise, welches Vorgehen angemessen ist, einem entspricht und zum Veränderungsvorhaben passt.

 

Veränderung in kleinen Schritten: Was beinhaltet dies?

Angenommen, Sie haben ein klares Bild, was Sie an einem Umzug aufs Land oder einer beruflichen Selbstständigkeit reizt oder auch, welches Lebensgefühl Sie entwickeln wollen, aber der Schritt ist zu groß, kann es sehr sinnvoll sein, in kleinen Schritten vorzugehen:

  • „Brütezeit“. Sie geben sich eine Zeit, den Veränderungswunsch wachsen zu lassen. Sie sammeln zusätzliche Informationen, lesen von oder sprechen mit Menschen, die Ähnliches gemacht haben. Sie nehmen mental den Veränderungsschritt vorweg und spielen durch: Wie werde ich dann leben? Wie genau wird dieses „neue“ Leben aussehen? Worüber werde ich mich freuen? Was sind potentielle Schwierigkeiten und wie werde ich sie meistern? Was ist das Beste, was geschehen kann? Was das Schlimmste? Wie werde ich dann vorgehen? Würde ich diesen Schritt dann noch immer machen wollen? Lassen Sie auf diese Weise ein immer plastischer werdendes inneres Bild entstehen – als hätten Sie die Veränderung bereits gemacht.
  • Grosse Schritte in kleine herunterbrechen. Es kann durchaus nützlich sein, es so zu machen wie es die Journalistin vorschlägt: Bevor Sie aufs Land ziehen, erst mal längeren Urlaub machen, mit Menschen vor Ort sprechen, ein Gefühl bekommen für die praktischen sowie auch mentalen und emotionalen Aspekte eines solchen Lebens: Wie kann ich hier praktisch organisieren, was für mein Leben wichtig ist? Wie fühle ich mich an diesem Ort? Was sind hier die „vibes“? Komme ich in Kontakt mit Menschen? Was für ein Gesamtgefühl entsteht?
  • Offenheit für „dritte“ Lösungen: Oft wird ein Entweder-Oder zum eigentlichen Stressor, der einen Veränderungsprozess blockiert. So kontaktierte mich ein Herr für eine Beratung: Er lebt an einem schönen Ort mit einem guten Job. Seine Partnerin hat ein Geschäft in einer anderen Stadt. Sie möchten gerne zusammenleben. Doch der Gedanke, seine Wohnung und den Job gleich aufzugeben, blockiert ihn zunehmend. Ich frage ihn, was die Distanz ist zwischen den zwei Orten. Überbrückbar. Ich frage ihn, ob es nicht eine Idee sein könnte, erst eine Zeit zu pendeln? Bei der Partnerin einzuziehen, aber unter der Woche noch an seinem Ort zu sein? Oder seine Wohnung aufzugeben, aber zur Arbeit zu pendeln? Er reagiert ganz beschwingt: „Habe ich gar nicht erwogen, das ist eine gute Idee, das werde ich machen!“ Gut möglich, dass es so zu einem Happy End gekommen ist, wobei er vielleicht inzwischen auch einen guten neuen Job am neuen Ort gefunden hat. Das ist ein schönes Beispiel, wie Zwischenschritte Veränderung ermöglichen. Man muss sich und anderen nichts beweisen. Man muss lediglich herausfinden, was in dieser spezifischen Situation ein passendes Vorgehen ist, hinter dem man selbst steht und das Veränderung ermöglicht. Entscheidungsdruck, Entweder-Oder-Denken oder zu große Schritte können kontraproduktiv sein.
  • Die erwünschte Zukunft in die Gegenwart „ziehen“. Jetzt schon so denken, fühlen, handeln als wäre man in der erwünschten neuen Situation. So wie es die Beratungskundin machte, von der ich in einer früheren Newsletter-Ausgabe erzählt habe. Ihr Partner hatte sie verlassen. Sie wollte ein neues Leben aufbauen. Nur: Wie?! Ich fragte sie, wie ein gutes neues Leben für sie aussehen würde, wie sie sich fühlen würde. Sie antwortete: Ich wünsche mir, selbstbewusster zu sein, mit mehr Selbstvertrauen. Ich fragte sie, wie ein solches Leben aussehen, was es beinhalten würde. Es sprudelte aus ihr heraus: Am Arbeitsplatz nicht immer die Dienste nehmen, die kein anderer will. Beziehungen abbrechen, die ihr nicht guttun. Eine Weiterbildung machen, die schon lange ein Herzenswunsch von ihr ist. Mit dem Nachbarn sprechen, der sich über ihr Klavierspiel beklagte. Ich fragte sie, was jetzt ein erster Schritt sein könnte. Sie antwortete spontan: Mit dem Nachbarn sprechen. Sie bereitete sich vor, wie sie dieses Gespräch als selbstbewusste, selbstvertrauende Frau führen konnte. Sie wagte den Schritt. Ein Erfolgserlebnis. Seither sind mehr als zehn Jahre vergangen. Sie hat viele solche Schritte gemacht – und mit jeder Erfahrung war es weniger ein „so tun als ob“, sondern wurde sie auf natürliche Weise die selbstbewusste Frau, die sie sein wollte.

 

Was sind Vorteile kleiner Veränderungsschritte?

Es gibt eine ganze Reihe:

  • Kein Veränderungs- und Entscheidungsstress. Veränderung soll kein Selbstzweck sein. Sie müssen nichts und niemandem etwas beweisen. Es geht nicht um möglichst große, spektakuläre Schritte. Es geht darum, dass Sie in eine Richtung aufbrechen, für die Sie sich einsetzen wollen und können. Egal, ob mit großen oder kleinen Schritten. Es führen viele Wege nach Rom.
  • Eigenes Tempo, maßgeschneiderte Schritte. Wenn Sie etwas verändern wollen oder müssen, geht es letztlich darum, dass Sie mehr die Person werden, die Sie sein wollen. Wenn Sie ein klares Bild haben, was das beinhaltet, können Sie Schritte bestimmen, die Ihnen entsprechen, hinter denen Sie stehen, die Mut zu Neuem fordern ohne zu überfordern. Manchmal ermöglichen kleine Schritte Schlüsselerlebnisse: Das Gespräch mit dem Nachbarn, der sich über ihr Klavierspiel ärgerte, ließ die Beratungskundin unmittelbar erfahren, wie sie als Frau mit Selbstvertrauen vorgehen kann und wie sich dies anfühlt. Vordergründig kein spektakulärer Schritt, war es für sie der Wendepunkt.
  • Schon jetzt so denken, fühlen, handeln, als ob Erwünschtes bereits Realität wäre, ermöglicht, dass sich Gehirn und Körper neurobiologisch auf erwünschtes Neues einstellen. Die Beratungskundin war noch nicht die Frau, die auf natürliche Weise voller Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein ist. Doch sie reflektierte, wie sie als solche Frau denken, fühlen und handeln würde und richtete ihr Entscheiden und Handeln darauf aus. Das führte zu neuen Erfahrungen. Die sie wiederum zu weiteren Schritten ermutigten. Indem wir uns entschlossen ins Neue versetzen und mit Mut und Ausdauer entsprechend handeln, geben wir Gehirn und Körper neue Signale. Wir wissen heute: Wer dies wiederholt und konsistent tut, bewirkt, dass sich Gehirn und Körper auf das Neue einzustellen beginnen. Mit ihren Schritten trug die Beratungskundin dazu bei, dass alte neuronale und chemische Prozesse, die mit ihrem Denken, Fühlen und Verhalten als Frau mit geringem Selbstvertrauen einhergingen, unterbrochen wurden. Zugleich bewirkte ihr Training, neu zu denken, zu fühlen und zu handeln, neue neuronale und chemische Prozesse, die kompatibel sind mit einer Frau, die auf natürliche Weise voller Selbstvertrauen ist.
  • Erfahrungen sammeln. Kleine Schritte führen zu neuen Erfahrungen, Informationen, Wissen. Man gewinnt zusätzlich Klarheit, lernt mehr über den Veränderungsschritt und sich selbst. Ohne etwas abzuzwingen, klärt sich nach und nach, ob unser Veränderungswunsch bestätigt, bestärkt wird – oder es zeigt sich, dass es sinnvoll ist, erneut genau hinzuschauen.
  • Möglichkeit zum „fine tuning“. Vielleicht zeigt sich, dass der ursprüngliche Veränderungswunsch gestärkt wird – man kann getrost in Richtung dieses „motivierenden Horizonts“ weiterschreiten, vielleicht sogar einen großen Schritt wagen. Vielleicht erfuhr der Beratungskunde das Zusammenleben mit seiner Partnerin so gut, dass er eine neue Stelle suchte und seinen ursprünglichen Lebensmittelpunkt aufgab. Vielleicht führen kleine Schritte aber auch zur Erkenntnis, dass beispielsweise der Wunsch, aufs Land zu ziehen, doch nicht eine gute Idee ist. Dann kann geschaut werden, wie das, was mit diesem Wunsch verbunden ist – beispielsweise Ruhe, schöne Umgebung – auf andere Weise erreicht werden kann.
  • Möglichkeit zur Erkenntnis, nichts Eingreifendes an der aktuellen Situation ändern zu müssen / wollen. Gut möglich, dass im Prozess kleiner Schritte klarer wird, dass man in der aktuellen Situation bereits viel von dem leben kann, was einem wichtig ist. Oder dass das Verlockende des „ganz anderen“ genau angeschaut mehr Nachteile als Vorteile hat. So kontaktierte mich eine Frau für eine Beratung. Sie lebte auf dem Land, idyllisch, in einer guten Stelle als Leiterin einer Kindertagesstätte mit einigen Angestellten. Sie erwog, in die Großstadt zu ziehen – Kultur, Lebendigkeit, Menschen, großes Angebot lockten. Sie hatte sogar schon ein Angebot für eine interessante Stelle. Doch sie kam enorm unter Druck, hatte Angst, vor dem Schritt. Ich ließ sie beide Situationen – umziehen oder bleiben – erkunden, so plastisch wie möglich, fast, als ob sie bereits so leben würde: Zuerst das Leben in der Stadt. Dann das Leben wie bisher. Ohne Entscheidungsdruck. Mit möglichst vielen konkreten Details. Am Schluss stellte sie erstaunt fest, dass sie unter dem Strich doch bleiben wollte. Sie hatte realisiert, wie viel Gutes ihr die aktuelle Situation bot und dass ihr das von neuem kostbar war.

Auf diese Weise können kleine Schritte sehr angemessen sein – und auch große Veränderung ermöglichen. Das Schöne: Man kann hier und jetzt damit beginnen 😊!

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • Hier können Sie lesen, was die Journalistin Jessica Benjatschek in der Zeitschrift Emotion aus ihrer Frage gemacht hat: „Kompromiss is King.“

 


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