Von Opferhaltung ins Gestalten (2): Warum dies fast „magisch“ positive Gefühle auslöst

Grüezi – Guten Tag!

Willkommen wieder zurück nach der Sommerpause! Hoffentlich fühlen Sie sich ausgeruht und gutgelaunt. Um positive Gefühle geht es in diesem Newsletter. Positive Gefühle stellen sich nicht nur in den Sommerferien ein, sondern auch bei Menschen, die sich entscheiden und üben, von einer Opferhaltung ins Gestalten zu wechseln. Warum dies weniger magisch ist als es scheinen mag und wie es dazu kommt, darum geht es hier.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

„Auch wenn es sich ‚magic‘ anfühlt…”

In der letzten Newsletter-Ausgabe vor der Sommerpause erzählte ich von einer Beratungskundin, die sich entschied, eine beginnende Opferspirale zu verlassen. Ich hatte ihr dazu Wissen vermittelt und eine zweiteilige Übung gegeben: Der erste Teil war darauf ausgerichtet, genau hinzuschauen und Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen, die mit der destruktiven Spirale verbunden waren, zu benennen. Zur Erinnerung: Genau hinschauen heißt, möglichst sachlich zu beobachten, um Wichtiges zu erkennen. Es ist nicht zu verwechseln mit analysieren und grübeln. Der zweite Teil der Übung war darauf ausgerichtet, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen, die sie haben würde als Person, die die Opferspirale erfolgreich verlassen hat.

Die Beratungskundin schrieb mir nun: „Ich habe Ihren neusten Newsletter mit Neugier und Freude gelesen. Hoffentlich macht er andern Mut, das Jammertal zu verlassen und von einer besseren Warte aus weiterzugehen. Auch wenn es sich ‚magic‘ anfühlt, zeigen Sie ermutigend sachlich auf, wie es funktionieren kann, wieder mehr Klarheit, Entschlusskraft und einen besseren Umgang mit sich selber und den durchaus realen Schwierigkeiten zu finden. Wann immer ich jetzt in Verzagtheit oder Wehmut abzudriften drohe, habe ich eine Handhabe, die mich motiviert, mich so schnell wie möglich anders zu justieren.“

Ja, es kann sich „magic“ anfühlen, wenn man in einer schwierigen Situation am Morgen plötzlich singt, nachdem man sich entschieden hat, nicht mehr Opfer zu sein und den Mut aufbringt, genau hinzuschauen, was mit den destruktiven Mustern einhergeht und sich damit auseinanderzusetzen beginnt, wie man denken, fühlen und handeln würde als Person, die das destruktive Muster hinter sich gelassen hat.

Ja, es kann sich „magic“ anfühlen, wie unmittelbar sich so das Gefühl einstellt, ein anderer Mensch zu sein – einer, der die aktuelle Situation anders wahrnimmt und plötzlich Schritte macht, die über Monate oder manchmal auch Jahre hinweg unvorstellbar schienen.

Ein interessantes Phänomen, von dem ich immer wieder höre. Ein Phänomen, das es wert ist, einmal näher angeschaut zu werden. Je besser man Dinge versteht, desto besser kann man sie umsetzen.

 

Plötzlich fröhlich?!

Menschen, die den Mut aufbringen, von einem Opfer- in einen Gestalter-Modus zu wechseln, beschreiben oft Ähnliches: Sie berichten, dass sie plötzlich Schwung haben, auf Ideen kommen, besser gelaunt sind, zuversichtlicher – auch wenn Umstände noch nicht anders sind. Und sie beschreiben, dass sich auf überraschende Weise Lösungen ergeben – so wie der Journalist, von dem ich im erwähnten Newsletter ebenfalls erzählte.

In meiner Arbeit höre ich dies immer wieder:

So erzählt die Frau eines Parkinson-Patienten: „Ich betreue meinen Mann. Das ist oft sehr belastend: zeitlich, kräftemäßig, emotional und ganz einfach auch praktisch. Mitten in allem habe ich mir jetzt einen alten Traum erfüllt: Ich habe gelernt, zu jodeln!“ Und ganz glücklich ergänzt sie: „Ich gehe jetzt anders um mit den Belastungen – es singt in mir!“

Eine Pflegdienstleitende kommt nach einem Seminar in einer Klinik auf mich zu. Sie erzählt, dass ihr Team so langsam hängen lasse ob all der Reorganisationen und Veränderungen. Sie sei selbst oft auch drauf und dran, Elan und Motivation zu verlieren. Jetzt habe sie Wichtiges verstanden und Ideen, wie sie die Situation noch anders angehen kann als selbst in eine negative Spirale abzudriften. Sie sei sehr motiviert, einiges umzusetzen. Etwas später kontaktiert sie mich. Sie erzählt, dass sie mit einem kleinen Schritt begonnen habe: Sie hätte in einer Teamsitzung Karten verteilt mit Aussagen zu Umgang mit Veränderung. Sie hätte die Mitarbeitenden darüber diskutieren lassen. Die Stimmung sei sehr angeregt gewesen. Es seien wichtige Themen, Bedürfnisse, auch berechtigte Fragen und reale Probleme auf den Tisch gekommen. Sie hätten zusammen Ideen entwickelt, wie sie einzeln und als Team mit all den Veränderungen anders umgehen konnten als mit Frustration, Unzufriedenheit, „Veränderungsmüdigkeit“ oder (innerer) Kündigung. Erstaunt-fröhlich meint sie: „Es ist, als hätte ich ein neues Team!“

In einem Seminar vermittle ich Wissen zu Denk- und Verhaltensmustern. Eine Teilnehmerin bringt sich ein: „Jetzt habe ich gerade etwas verstanden. Wissen Sie, mein Mann und ich geraten seit Jahren immer wieder in die gleiche destruktive Spirale gegenseitiger Beschuldigung, Nörgeln aneinander usw. Jetzt verstehe ich, warum Grübeln nicht hilft! Ich gehe jetzt nach Hause und sammle Ideen, wie ich künftig anders vorgehe und nicht zum millionsten Mal in die gleiche Spirale einsteige.“ Sie spricht mit Kraft in der Stimme und strahlt.

Was machen Menschen, die sich entscheiden und üben, aus einem Opfer-Modus in einen Gestalter-Modus zu wechseln?

Und: Woher kommen die positiven Gefühle, die sich fast „magisch“ anfühlende Freude, das Gefühl, in einem anderen Modus zu sein und plötzlich Dinge sehen, denken, fühlen und tun zu können, die davor oft lange unmöglich schienen? Und: Was unterscheidet diese positiven Gefühle vom vorübergehenden „Feel good“, dem viele Menschen nachjagen?

 

Was kennzeichnet Menschen, die vom Opfer- in einen Gestalter-Modus wechseln?

Menschen, die von einem Opfer- in einen Gestalter-Modus wechseln, haben einiges gemeinsam:

  • Sie realisieren: Nicht Umstände bestimmen, wie sie einer Situation begegnen, sondern die Art, wie sie diese Situation wahrnehmen, worauf ihre Aufmerksamkeit liegt, was dominante Gedanken, Interpretationen und Gefühle sind und was sie in der Folge entscheiden. Sie realisieren, dass ihr Verhalten durch ihre Haltung gesteuert wird.
  • Sie wollen wissen: Warum und wie steuert ihre Haltung ihr Verhalten? Und: (Wie) lassen sich Denken, Fühlen und Verhalten ändern? Gerade auch dann, wenn man schon viele Jahre auf vertraute Muster in Denken, Fühlen und Verhalten zurückgreift? Sie sagen nicht: „Ich bin eben so“ oder „Nichts zu machen“. Sie wollen verändern.
  • Sie verstehen, dass und vor allem auch warum sie destruktive Muster nicht endlos analysieren müssen – sondern dass es darum geht, diese zu erkennen und zu unterbrechen. Immer wieder erfahre ich, dass sie neurobiologisches Wissen hier sehr interessiert aufnehmen und befreit und ermutigt darauf reagieren.
  • Wissen bewirkt bei ihnen „Aha-Erlebnisse“: So wie die Frau, die plötzlich versteht, was abläuft, wenn sie und ihr Mann immer wieder in die gleichen Spiralen geraten und warum Grübeln dann nicht hilft. Wissen und Verstehen sind die Basis jeder Veränderung. Menschen quälen sich oft viele Jahre, drehen endlose mentale Spiralen oder verharren in der Fokussierung auf Umstände. Sie verstehen nicht, was es mit Denk- und Verhaltensmustern auf sich hat, bleiben hängen bei unhinterfragten Interpretationen, grübeln, deuten, geben sich vielleicht Mühe, „positiv“ zu sein oder hoffen auf Wunder – und machen „mehr desselben“.
  • Sie lernen, dass man sich sachlich mit Denk- und Verhaltensmustern auseinandersetzen kann – und dass die Suche nach Ursachen, Fehlern oder Schuld(igen) destruktive Muster stärkt. Das baut Angst ab und erhöht Bereitschaft und Motivation. Viele scheuen sich, sich mit sich und ihren Denk- und Verhaltensmustern auseinanderzusetzen, weil sie befürchten, schlecht wegzukommen. Begreiflicherweise nicht motivierend.
  • Sie spüren, dass Wissen und Verstehen befreit und Energie gibt. Sie tappen nicht mehr im Dunkeln, sie wissen, wo sie ansetzen können. Das setzt positive Gefühle frei.
  • Sie entscheiden sich, Wissen umzusetzen – auch, wenn es sich anfangs merkwürdig anfühlt. Sie setzen sich damit auseinander, wie ein Leben in einem Gestalter-Modus aussehen würde, wie sie denken, fühlen und handeln würden als Person, die Schwieriges meistert und ein Leben lebt, das es wert ist, jetzt mutige Schritte zu wagen. So richten sie den Blick über die aktuelle Situation hinaus. Sie öffnen den Fokus. Das erschließt Zugang zu Ideen, neuen Verhaltensweisen und bewirkt neue Erfahrungen, Gefühle und Gedanken.
  • In diesem Prozess erfahren sie, dass sie ihre Situation beeinflussen können. Dadurch fangen sie an, zu entspannen. Durch Entspannung kommen sie in Kontakt mit sich selbst, ihren Ressourcen und ihrer Kreativität. Es ist nicht schwer nachvollziehbar, dass dies alles positive Gefühle bewirkt, auf Ideen bringt, ins Handeln zieht und oft zu überraschenden Lösungen führt.

Und so kommt es, dass solche Menschen plötzlich am Morgen singen, Belastungen anders begegnen, ihr Team wie ausgewechselt erfahren, fest entschlossen und motiviert sind, destruktive Spiralen zu unterbrechen, auf überraschende Weise einen Job finden oder einen schönen „Corona-Blues“ komponieren statt in den Blues abzudriften.

Auch wer sich Jahre oder sogar Jahrzehnte in Opferspiralen verfangen hat, kann den „Schalter“ umstellen. Jetzt. Es braucht nicht endlose Analysen. Es braucht relevantes Wissen, „Aha“-Erlebnisse, Bereitschaft, die Entscheidung, Wissen umzusetzen sowie langen Atem. Das ist nicht Magie. Es ist Resultat von „Bereitschaft, genau hinzuschauen“ und „Entschlossenheit und Mut, vorwärts zu gehen“.

 

Warum ein Wechsel vom Opfer- in einen Gestalter-Modus positive Gefühle auslöst und was dies von vorübergehendem „Feel good“ unterscheidet

Psychologisch gesehen stärken Menschen, die in den oben beschriebenen Prozess einsteigen, ihre Fähigkeit zur Gefühlsregulierung sowie ihre Selbstwirksamkeit. Gefühlsregulierung bedeutet: Sie üben, sich mit Schwierigem auseinanderzusetzen, dabei beeinträchtigende Gefühle zu erkennen und zuzulassen, ohne sich darin zu verlieren (Frustrationstoleranz). Zugleich lernen sie, (echt!) positive Gefühle zu aktivieren, indem sie den Fokus öffnen und sich damit auseinandersetzen, wozu es Sinn macht, sich Schwierigem zu stellen, wie sie als Person im „Gestalter-Modus“ der aktuellen Situation begegnen würden, was sie dabei gewinnen können usw. (Selbstmotivierung). Frustrationstoleranz und Selbstmotivierung bewirken doppelt positive Gefühle: Zum einen erfährt man, die Konfrontation mit Schwierigem „überleben“, ja dabei Wichtiges erkennen und somit adäquat ansetzen zu können. Das beruhigt und ermutigt. Zum anderen erfährt man, dass ein offener Blick über das Problem hinaus Zugang zu sich selbst, zu Erfahrungen, Ressourcen und Kreativität erschließt. Dies gibt Energie, motiviert, lässt auf gute Ideen kommen, erleichtert das Handeln und ermöglicht damit die Erfahrung, den Gang der Dinge beeinflussen zu können. Man erfährt Selbstwirksamkeit.

Neurobiologisch gesehen wechseln Menschen, die in den oben beschriebenen Prozess einsteigen, von einem „Stress/Survival“- in einen „(Re)Creation“-Modus. Damit sind zwei Kreisläufe gemeint, die einhergehen mit unterschiedlichem Denken, Fühlen, Verhalten sowie damit zusammenhängenden unterschiedlichen physiologischen Prozessen. Stress/Survival wird ausgelöst durch reale oder mental wahrgenommene Gefahr, Bedrohung, Belastung. Gehirn und Körper schalten ins Notfallprogramm und aktivieren die Ur-Überlebensstrategien „kämpfen“, „flüchten“, „verharren“. Dies geht einerseits einher mit beeinträchtigenden Gedanken und Gefühlen, andererseits mit physiologischen Prozessen, die helfen, kurzfristige Stresssituationen zu bewältigen, auf Dauer aber Gesundheit gefährden. Ein Opfer-Modus ist neurobiologisch nichts anderes als ein Stress-/Survival-Kreislauf. Ein (Re)Creation-Modus wird ausgelöst, wenn Gehirn und Körper die Möglichkeit erhalten, auf Entspannung und Regeneration umzustellen. Das ist der Modus, in dem man positive Gefühle hat, in Kontakt ist mit sich selbst, klar denken und auf Ideen kommen kann. Genau dies wird angeregt, wenn eine Person klärt, wie sie in einem Gestalter-Modus denken, fühlen und handeln wird. Indem sie mental in diesen Modus geht, legt sie den Boden, auf dem sich Gehirn und Körper buchstäblich auf die neuen Signale einzustellen beginnen. Je stärker, klarer und häufiger die neuen förderlichen Signale sind, die eine Person dem Gehirn gibt, desto mehr beginnen sich Gehirn und Körper physiologisch darauf einzustellen. So beginnt eine positive Spirale. Die sich „magic“ anfühlenden positiven Gefühle werden ausgelöst, weil die neuen Signale zu neuen chemischen Prozessen führen, die diese Gefühle bewirken. Weil die Person erfährt, mit neuen Sicht-, Denkweisen und Gefühlen besser zu tun, was es zu tun gibt, beginnt sie zu entspannen. Haben Umstände vorher den Opfer-Modus getriggert, so kann die Person jetzt ihre Situation gestalten.

Worin unterscheidet sich dies von einem vorübergehenden „Feel good“? „Feel goods“ sind oft abhängig von Umständen; sie werden ausgelöst durch eine Wellnesswoche, ein neues Kleid oder einen Freund, der ermutigt. Damit ist natürlich überhaupt nichts falsch. Nur werden solche Momente häufig nicht genutzt, um strukturell positive Prozesse zu ermöglichen. Bei Menschen, die entschlossen von einem Opfer- in einen Gestalter-Modus wechseln, ist dies anders: Sie setzen sich damit auseinander, welche Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen mit ihrem Opfer-Modus verbunden sind. Und sie setzen sich damit auseinander, wie sie als Person denken, fühlen und sich verhalten, die happy ist. Sie bewirken das „Feel good“, statt es zu suchen.

Von Herzen wünsche ich Ihnen all die positiven Gefühle, die sich bei einem entschlossenen Wechsel von einer Opferhaltung ins Gestalten einstellen – etwa Befreiung, Freude, Neugierde, Mut, Inspiration und Zuversicht.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • In meinem neuen Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“ können Sie sich Wissen aneignen zu diesen Kreisläufen bzw. zur Entstehung und Veränderbarkeit von Denk- und Verhaltensmustern. Auch wenn ich das Buch für Professionals geschrieben habe, so kann es auch für alle interessant sein, die mehr darüber wissen wollen. Schließlich kann man auch Professional bei sich selbst sein 😊. Eine Idee, um was für ein Buch es sich handelt, gibt mein Newsletter zum neuen Buch, den ich diesem zur Feier des Publikationstages gewidmet habe.

 


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