Von Opferhaltung ins Gestalten

Grüezi – Guten Tag!

Heute zwei ermutigende Geschichten von Menschen, die verstanden haben, warum Opfergefühle zwar verständlich, aber nicht hilfreich sind. Und die den Mut aufbrachten, aus der Opferhaltung aufzubrechen und ihr Leben (wieder) zu gestalten.

Viel Anregendes wünscht Ihnen

Sibylle Tobler

Inhalte

 

„Ich habe heute Morgen gesungen!”

Es gibt immer wieder Anlässe, die dazu veranlassen können, sich als Opfer zu fühlen. Nicht nur, aber sicher gerade auch gegenwärtig.

Ich denke etwa an den Besitzer eines kleinen Restaurants in unserem Quartier; er muss sich auf die dauernd ändernden Regeln der aktuellen Situation einstellen und hat einen großen Einkommenseinbruch zu verkraften. Ich denke an die Studienabgängerin, die sich momentan mit einem Job im Telefonmarketing über Wasser hält, statt die geplante Spezialisierungsausbildung im Ausland zu absolvieren. Ich denke an die Frau eines Parkinsonpatienten, die erschöpft ist, weil die gut eingefädelte externe Hilfe während der Pandemie unterbrochen wurde. Es wäre nachvollziehbar, sich in solchen Situationen als Opfer garstiger Umstände zu fühlen.

Kürzlich beeindruckten mich zwei Personen, bei denen es ebenfalls nachvollziehbar gewesen wäre, wenn sie sich in Opfergefühlen verstrickt hätten. Sie haben diese Gefühle gehabt. Aber sie haben es geschafft, die damit verbundene Negativspirale zu durchbrechen.

Die eine Person ist eine Frau, die mich für eine Beratung kontaktierte in einer begreiflicherweise konfrontierenden Situation. Sie schrieb mir, dass sie bereits seit längerem mit meinen Büchern arbeite. Dies habe dazu beigetragen, dass sie u.a. einen beruflichen Wechsel gewagt hatte, mit dem sie inzwischen mehrere Jahre happy ist. Doch nun wollte plötzlich ihr Mann nach vielen Jahren Ehe seinen eigenen Weg gehen. Es sei, als ob all das positive Neue unter ihren Füssen wegrutschen würde. Sie fand sich plötzlich in Ängsten, Zweifeln und Verunsicherung zurück, die sie von früher kannte. Sie beschrieb, wie sie mental immer mehr in diesen alten Mustern hängen blieb, um sich selbst drehte, sich bemitleidete. Sie war daran, in eine destruktive Spirale zu geraten. Um es kurz zu machen: Im Intake bestimmten wir zwei Schwerpunkte für unsere Arbeit: 1. Ich schlug ihr vor, ihr Wissen zu vermitteln zu Entstehung und Veränderbarkeit von automatisierten Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern. Ich würde ihr erklären, was es mit solchen Mustern auf sich hat, warum sie gerade in akuten Veränderungssituationen getriggert werden können und schließlich, dass und warum es essenziell ist, solche Muster zu erkennen, zu lernen, sie zu unterbrechen und nicht in die Opferrolle zu gehen. Wissen befähigt, besser zu verstehen, was abläuft und ist die Basis für adäquates Vorgehen. 2. Ich schlug ihr vor, zusammen zu schauen, wie sie praktische Lösungen finden konnte für praktische Fragen, die sich in der aktuellen Situation stellen. Gefangen in ihren Gefühlen, der Entscheidung ihres Mannes ausgeliefert zu sein, kam sie begreiflicherweise nicht auf Ideen, was für sie gute konkrete Optionen sein könnten fürs Weitergehen. Für beide Punkte gab ich ihr eine „Hausaufgabe“. Als wir ein paar Tage später ins erste Gespräch einstiegen und ich sie zuerst fragte, wie es ihr ging, antwortete sie fröhlich: „Ich habe heute Morgen gesungen!“ und fügte an: „Es geht mir viel besser. Ich habe Wichtiges verstanden. Ich habe mich entschieden, nicht Opfer zu sein. Ich habe mich entschieden, die Situation zu akzeptieren, wie sie ist. Ich bin bereit, mich innerlich von diesem Mann zu lösen.“ Alles gab mir den Eindruck, dass diese Worte nicht nur vom Kopf kamen, sondern aus dem Bauch. Um sie in ihrem Aufbruch zu unterstützen, erklärte ich ihr einige wichtige Dinge zu Denk-, Gefühls- und Verhaltensmustern und wie sie damit an die Arbeit gehen konnte. Sie hatte die „Hausaufgaben“ sehr sorgfältig gemacht und zu ihrer eigenen Überraschung bereits Ideen, wie sie einige praktische Dinge angehen wollte. Aus allem sprach, dass sie den wichtigsten Schritt umgesetzt hatte: Sie hatte die Weichen neu gestellt. Sie hatte die Opferschiene verlassen. Ich bin sicher, dass diese Frau soeben den Draht zu ihrem gut begonnenen „neuen“ Leben wieder aufgenommen hat und dieses Leben weiter gestalten wird. Sie ist nicht naiv. Sie weiß, dass noch vieles vor ihr liegt. Sie weiß, dass es noch immer passieren kann, wieder in die lähmende Spirale zu geraten. Doch sie hat verstanden und jetzt erlebt, dass sie es schaffen kann, diese Spirale zu durchbrechen. Ein lockerer Mailkontakt bestätigt meinen Eindruck: Die Frau ist sehr gut unterwegs.

Am Tag nach diesem Gespräch gab ich ein Interview für eine Fachzeitschrift. Es ging um Menschen, die im Kontext der Pandemie zu Veränderung gezwungen worden sind. Und um die Frage, was in solchen Situationen hilfreich und effektiv ist. Auch hier ging es um den Umgang mit Gefühlen, Opfer von Umständen zu sein. Am Schluss des Gesprächs erzählte der Journalist, die vorbereitende Lektüre meines Buches „Die Kunst, über den eigenen Schatten zu springen oder wie Sie Schwierigkeiten bei Neuanfängen meistern“ sei für ihn ein Eye-Opener gewesen und hätte bewirkt, dass er entschieden hätte, selbst eine beginnende Opferspirale zu unterbrechen. Sein Arbeitspensum war gekürzt worden. Das bedeutete, dass er eine ergänzende Einkommensquelle finden musste. Dies hatte ihn nicht nur wütend gemacht, sondern bewirkt, dass er zunehmend in Stress kam und seine für seine Arbeit so wichtige Kreativität beeinträchtigt wurde. So können Spiralen entstehen, die zwar verständlich, aber eben auch destruktiv sind. Durch die Lektüre verstand er dies und entschied sich, aus diesem beginnenden Teufelskreis auszusteigen. Er entschied sich, damit aufzuhören, Opfergefühle und Wut zu pflegen. Er suchte nochmals das Gespräch mit der Chefin. Noch immer sah diese keine Möglichkeiten, das Pensum geringfügig zu erhöhen, was den Lebensunterhalt gesichert hätte. Doch was passierte? Die Chefin erzählte die Geschichte einer anderen Person. Worauf diese eine Idee hatte. Kurz: Der Journalist hat jetzt eine zusätzliche und auch noch sehr interessante Aufgabe und braucht nicht mehr nach einer zusätzlichen Einkommensquelle zu suchen. Wenn er in der Opferrolle verharrt hätte, wäre dies bestimmt nicht geschehen.

Das sind Menschen und Geschichten, die mich glücklich machen: Menschen, die wissen und verstehen wollen, wie sie ihr Leben in die Hand nehmen können. Und die dann auch Schritte umsetzen. Sie sind der „Motor“ meiner Arbeit. Und sie können auch andere ermutigen, inspirieren und ihnen die Erfahrung ermöglichen, dass auch sie den „Opfer-Modus“ verlassen können, dies Energie freisetzt, Zugang zu inneren Ressourcen erschließt, auf Ideen bringt und sich ganz bemerkenswerte Wendungen ergeben können.

 

Von Opferhaltung ins Gestalten – Anregungen

Möglicherweise fragen Sie sich jetzt: Ja, aber (wie) kann auch ich es schaffen, aus einer beginnenden oder vielleicht auch schon lange vertrauten Opferhaltung auszusteigen? Die Beratungskundin und der Journalist geben eine Idee, in welche Richtung das geht.

  • Wissen, was eine Opferhaltung ist: Eine Opferhaltung kommt nicht vom Himmel geflogen. Man entwickelt sie. Im Kern ist darunter zu verstehen, dass man davon ausgeht, Opfer von Umständen zu sein – egal, ob dies der Scheidungswunsch des Ehemanns, eine Kündigung, eine Krankheitsdiagnose oder der Zeitgeist ist. Man entwickelt entsprechende Gedanken („Warum nur ich?“, „Das ist ungerecht!“, „Schuld von…“ usw.), Gefühle (Angst, Wut, Ohnmacht, Versagergefühle, Mutlosigkeit, Hilflosigkeit, Resignation usw.) und Verhaltensweisen (kämpfen, flüchten, sich anstrengen, klagen, protestieren, mentales Drehen, endlos analysieren, verharren usw.) und bewirkt damit „mehr desselben“.
  • Realisieren: Nicht die Umstände bestimmen, wie wir eine schwierige Situation bewältigen, sondern die Art, wie wir auf diese Umstände reagieren. Nicht der Ehemann, der die Scheidung will, bestimmt, ob wir uns als Opfer fühlen und uns entsprechend verhalten. Es ist die Art, wie wir seine Entscheidung interpretieren und welche Gedanken und Gefühle damit aktiviert werden. Je mehr wir uns als Opfer verstehen, desto mehr schwächen wir uns selbst. Je mehr wir uns in der Kunst üben, Dinge zu sehen, wie sie sind, zuzulassen, dass dies beeinträchtigende Gedanken und Gefühle auslösen kann, und zugleich Wege zu finden, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zu pflegen oder zu entwickeln, die uns helfen, die Situation möglichst gut zu bewältigen, desto weniger verfangen wir uns in destruktiven Spiralen.
  • Verstehen, warum wir uns mit einer Opferhaltung selbst schwächen – mental und körperlich. Wenn wir im „Opfer-Modus“ sind, liegt unsere Aufmerksamkeit auf Umständen. Das Problem ist nur: Diese ändern sich dadurch selten. Dies wiederum verstärkt beeinträchtigende Gedanken, Gefühle und erschwert produktives Handeln. In diesem Modus erhalten unser Gehirn und Körper konstant Signale, dass wir in Gefahr sind; sie stellen entsprechend auf das „Notfallprogramm“ um. Auf Dauer wird dies zum eigentlichen Problem: Wir haben nicht nur „Geschwätz“ im Kopf, können kaum klar denken, kommen nicht auf Ideen, fühlen uns elend und können nicht effektiv handeln – auch unsere körperliche Gesundheit wird beeinträchtigt. Das hat damit zu tun, dass Prozesse, die gutes Teamwork von Gehirn und Körper sowie Regeneration ermöglichen, im „Notfallprogramm“ beeinträchtigt werden, was auf Dauer körperliche Probleme begünstigt. Die Beratungskundin war drauf und dran, in diese Spirale zu geraten – sie erzählte von schlechten Nächten und Appetitmangel und dass sie manchmal Mühe hatte, sich am Arbeitsplatz zu konzentrieren.
  • Es ist jederzeit möglich, aus einem Opfer-Modus auszusteigen – so wie es die Beratungskundin und der Journalist getan haben. Es ist nie zu spät.
  • Ins Aufbrechen kommen. Mit der Entscheidung der Beratungskundin, die Opferspirale zu verlassen, wurde Energie frei. Dies äußerte sich darin, dass sie – für sie selbst überraschend – plötzlich am Morgen singen konnte, obwohl sich an den Umständen noch nichts geändert hatte. Sie hatte wieder Zugang zu sich selbst. Damit kam sie auch plötzlich auf Ideen, wie sie praktische Dinge lösen wollte und konnte. Statt sich zu lähmen, kam sie in Schwung. Ähnlich der Journalist. Mit seiner Entscheidung, die Opferspirale zu unterbrechen, war er in der Lage, das Gespräch mit der Chefin zu suchen. Als Opfer hätte er das kaum getan und wenn, dann wäre das kaum ein konstruktives Gespräch geworden. Obwohl die Chefin nicht auf seine Vorschläge eingehen konnte, kam es zu einer Lösung – auf überraschende, nicht planbare Weise. Und besser als er sich das hätte ausdenken können.

Die Beratungskundin und der Journalist haben beide entschieden, eine destruktive Spirale zu verlassen. Hier und jetzt. Sie haben nicht auf Wunder oder bessere Zeiten gewartet. Ihre Entscheidung war das Wesentlichste, was sie tun konnten und auch tun mussten, wollten sie nicht abdriften. Ich war selbst überrascht, wie rasch beide den „Dreh“ gefunden haben. Nein, mit der Entscheidung, den Opfer-Modus zu verlassen, ist eine Situation nicht plötzlich anders. Aber es ist die Basis, dass es dazu kommen kann. Es ist die Basis, auf der das Leben (wieder) gestaltet werden kann.

 

Wenn Sie sich vertieft mit dem Thema beschäftigen möchten…

  • Ein „Opfer-Modus“ ist neurobiologisch nichts anderes als ein „Stress/Survival“-Kreislauf – Gehirn und Körper sind im „Notfallprogramm“. Psychologisch kann er als „Verharren“ in einem destruktiven Kreislauf von Aufmerksamkeit, Denken, Fühlen und Verhalten verstanden werden. Eine erste Idee dieser beiden Kreisläufe bekommen Sie auf meiner Website zu „Verharren“ vs. „Aufbrechen“.
  • In meinem neuen Buch „Veränderungskompetenz fördern. Für Professionals in Führung, Beratung und Therapie“ gehe ich ausführlich auf diese beiden Kreisläufe bzw. Entstehung und Veränderbarkeit von Denk- und Verhaltensmustern ein. Auch wenn ich das Buch für Professionals geschrieben habe, so kann es auch für all diejenigen interessant sein, die mehr darüber wissen wollen. Schließlich kann man auch Professional bei sich selbst sein 😊. Eine Idee, um was für ein Buch es sich handelt, gibt auch mein Newsletter zum neuen Buch, den ich diesem zur Feier des Publikationstages gewidmet habe.

 


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